Lebens-Rolle Tochter: Warum die Gestaltung von Tochterschaft ein Riesenpotenzial birgt – Christiane Yavuz
Wir alle bewegen uns permanent in verschiedenen Rollen: Wir sind Partnerin, Kollegin, Mutter, Selbständige, Teamleiterin, Freundin, Tante, Schwester, Nachbarin… All diese Rollen sind – je nach Lebensphase, je nach Tagessituation, und abhängig von vielen anderen Faktoren – unterschiedlich stark präsent und uns im Alltag oft gar nicht so bewusst. Doch WIE wir unsere Rollen (er)leben, wie wir sie ausfüllen, wie wir sie gestalten – das ist es, was unser Leben und unsere Identität definiert: WIE sind wir als Partnerin? Was für eine Kollegin sind wir? Wie leben wir unsere Mutterschaft? Mit welcher Haltung sind wir Führungskraft? Sind wir die Nachbarin, die Pakete fürs ganze Haus annimmt?
Als Frauen verbindet uns die Tochter-Rolle
Wir alle haben oder hatten eine Mutter; selbst diejenigen, die ihre biologische Mutter vielleicht nie kennenlernten, kamen durch eine Mutterperson auf die Welt. Unsere Tochterschaft ist für jede bei Geburt als weiblich gelesene Person die erste Rolle, in die sie hineingeboren wird. Dieser prägenden Dimension wird die gesellschaftliche Wahrnehmung und der Blick auf das Thema Tochterschaft nicht gerecht.
Erstens mangelt es schlicht an den passenden Begriffen („betochtern“ klingt z.B. ziemlich ungewohnt, auch wenn es ein „bemuttern“ ganz selbstverständlich gibt) und zweitens sind die Energie und der Zeitaufwand, die „Daughtering“, also „das Tochter sein“ mit sich bringt, einfach nicht wirklich sichtbar. Ich lade dich ein, da mal genauer hinzuschauen – und ich vermute: eigentlich hast du es auch schon lange gespürt:
„Daughtering“ ist Arbeit
Die „Arbeit“ des Tochter-seins besteht längst nicht nur aus eventueller Versorgungs- und Pflegeunterstützung, sobald das für die Mutter ein Thema wird. Aber Moment mal – was soll das überhaupt? Wieso sollten wir beim „Tochter sein“ überhaupt von Arbeit sprechen? Wo kommwa denn da hin??
Nach den US-Amerikanerinnen Allison Alford und Michelle Miller-Day, die schon seit langem zum Thema Tochterschaft und Tochter-Rolle forschen und lehren*, kommen wir damit genau dahin, „Midlife-Frauen“, also Frauen in der Mitte des Lebens, die vielleicht eigene Kinder be-muttern („mothering“) und zugleich Eltern be-tochtern („daughtering“), besser unterstützen zu können.
Das Sichtbarmachen von Anstrengungen, von Tätigkeiten, die mentale und/oder zeitliche Kapazitäten in Anspruch nehmen, und vor allem auch die Nutzung angemessener Begrifflichkeiten ist immer der erste Schritt. (Zum Vergleich: Dank der zunehmenden Präsenz und Debatte rund um Mental-Load-Themen im Familienleben, hat sich auch schon etwas getan.)
Und so plädieren die beiden Forscherinnen dafür, alles, was erwachsene Töchter in ihrer Rolle als Tochter tun, auch konkret als solches zu benennen – also als „daughtering“, und nicht durch Leihnahmen aus anderen Beziehungswelten zu verschleiern. Vier Arten von Arbeit haben sie dafür kategorisiert – ich bin gespannt, wie leicht es dir fällt, dich da selbst in deiner Tochterrolle wieder zu finden:
1. “Thinking-work”: also die Zeit und Energie, die du dafür nutzt, über deine Mutter nachzudenken, über sie als Person, ihre Vergangenheit, ihre Zukunft. Aus der Elternschaft kennen wir diese Art der Arbeit auch – also alles was mit Planung, innerer Anteilnahme und gedanklicher Beschäftigung zu tun hat – und zwar in Zeiten, in denen die Kinder (oder eben hier: die Mutter) gar nicht anwesend sind. “Im Einsatz” als Tochter bist du ja nicht nur, wenn deine Mutter zugegen ist, sondern auch die Nachdenk-Arbeit in ihrer Abwesenheit nimmt Raum und Zeit ein.
2. “Doing-work”: also die Phasen, wenn du als Tochter handelst und “etwas tust”, einkaufen für deine Mutter, telefonieren, Zeit verbringen, Familienbesuche, ihr Handy neu einrichten, die Fernsehkanäle sortieren usw. aber auch, wenn du aktiv über sie sprichst, z.B. sie anderen Familienmitgliedern gegenüber verteidigst oder erklärst (z.B. ein Gespräch mit Partner:in nach einem Besuch…”du weißt ja wie sie ist… das hat sie nicht so gemeint…“)
3. “Feeling-work”: also alles, was mit der Auseinandersetzung mit deinen Emotionen zu tun hat: Und zwar zum einen die innere Arbeit an deinen Emotionen (z.B. der Versuch, gewisse Emotionen zu verändern: nicht mehr traurig sein, nicht mehr wütend sein… oder auch wenn du eine innere Zerrissenheit spürst zwischen dem, was du fühlst und was du fühlen „solltest“ – z.B. deine Mutter schenkt dir etwas, was dich irritiert / nicht zu dir passt – was löst das in dir aus?). Zum anderen gehört zur Feeling-Work dann auch das „performen“ der Emotionen, also mit welchen Emotionen agierst du sichtbar nach außen – unabhängig davon, ob du es so fühlst, oder es „nur“ zeigst.
4. “Being-work”: Also die (innere) Arbeit an deiner Tochterschaft-bezogenen Identitätsbildung. Das Formen, Stärken, Reparieren deines eigenen Selbst-Konzepts, deiner sozialen Identität. Diese Art der Arbeit findet in der Gegenwart statt, wird durch vergangene Erinnerungen und Erfahrungen geprägt und ist verbunden mit zukünftigen Vorstellungen.
Invisible Labor sichtbar und bewusst machen ermöglicht Anerkennung und Wertschätzung
Gerade für Frauen in der Mitte des Lebens, die oft Berufstätigkeit, vielleicht eigene Kinder, noch lebende Eltern, gesellschaftliche Erwartungen (und in den Weg geworfene Steine…) – all das parallel bearbeiten, kann es eine unheimliche Entlastung sein, wenn endlich anerkannt und gesehen wird, was all die kleinen und großen Elemente sind, die den individuellen Stress-Rucksack füllen.
Ich habe selten mitbekommen, wie all der Energieaufwand und – ja – die Arbeit, die erwachsene Töchter in ihrer Tochter-Rolle leisten, auch nur benannt, geschweige denn anerkannt wurde. Verblüffend, oder? Denn – mal auf die 4 oben beschriebenen Arten von Arbeit bezogen: Als Frau, beim Lesen und darüber Nachdenken, hast du bestimmt gespürt, dass auch du nicht einfach nur so nebenher Tochter bist, weil du halt eine Mutter hast. Dafür will ich sensibilisieren.
Szenenwechsel.
Eine Frau sitzt bei mir in der Beratung, weil die Kindergarten-Eingewöhnung ihres Sohnes ansteht. Zum zweiten Mal. Die erste ist komplett in die Hose gegangen mit dem Resultat, dass es nun in einem anderen Kindergarten wieder von vorne losgeht. Die Frau ist durch die erste Erfahrung sehr stark verunsichert. Hat in der ersten Einrichtung Szenen mitbekommen (zwischen Erzieherinnen und anderen Kindern), die sie (und ihren Sohn) verstört und stark an ihrem Vertrauen in die Institution Kindergarten gerüttelt haben. Nach allem, was sie mir berichtet, bestärke ich sie zunächst in ihrer Einschätzung und darin, wie und wo sie die Grenzen für sich und ihren Sohn gezogen hat.
An dieser Stelle will ich aber auf was anderes hinaus: Denn: in unserem Gespräch blitzt wieder mal etwas auf, das mir oft in meiner Arbeit mit Familien, mit Müttern begegnet: Die Auswirkungen der Beziehung zur eigenen Mutter auf die aktuelle Lebensgestaltung. „Meine Mutter kann überhaupt nicht verstehen, warum das mit dem Kindergarten bei uns nicht geklappt hat und wie ich damit umgegangen bin. Und das verunsichert mich noch mehr!“
Als ich im Nachgang zu unserem Termin weiter reflektiere, stelle ich zwei Thesen auf:
1. Würde die Frau ihre Mutter unterstützend und stärkend „im Rücken“ spüren – sowohl bzgl. der getroffenen Entscheidung, den Kindergarten zu wechseln, als auch für die anstehende neue Eingewöhnungsphase, wäre die Frau um einiges selbstsicherer und würde sich nicht so sehr verunsichern lassen. Darauf hat sie aber nur begrenzt Einfluss.
2. Würde die Frau ihre Tochterschaft bewusst und eigenmächtig gestalten, wäre sie emotional weniger abhängig von der Bewertung ihrer Mutter. Würde fester „im Driver Seat ihres Lebens sitzen“.
Beispiele dieser Art begegnen mir häufig. Und inspirier(t)en mich letztlich, mich in das Thema Tochterschaft weiter zu vertiefen. Denn das Entwicklungspotenzial ist groß!
Meine Vision, mein Appell:
Claim your daughterhood!
WIE wir unsere Tochterschaft leben, in sie hineinwachsen, welche Erfahrungen wir in ihr machen, uns in ihr weiterentwickeln – all das beeinflusst wesentliche Lebensbereiche: Unseren Umgang mit Bedürfnissen, mit Anerkennung, mit Streit und Konflikten, mit Nähe und Distanz, mit Beziehungsgestaltung, mit Selbstwert und Selbstgefühl.
Wenn wir Tochterschaft, die Lebensrolle des Tochter-seins und “Daughtering” auch klar als solches definieren und von anderen Lebensrollen abgrenzen, öffnet sich ein ganz selbstverständlicher Weg in Richtung aktive Gestaltung und Verantwortungsübernahme.
Also nimm deine Tochterschaft in die eigenen Hände. Darin liegt ein Riesenpotenzial. Entdecke es!
*Ich beziehe mich hier auf das Lehrbuch von Allison Alford und Michelle Miller-Day „Constructing Motherhood and Daughterhood Across the Lifespan“ (2019) sowie ihren Podcast “Hello Mother, Hello Daughter”
Der Artikel wurde familylab freundlicherweise zur Verfügung gestellt von familylab-Familienberaterin Christiane Yavuz.
Zuerst erschienen unter: www.christianeyavuz.de/blog/tochterschaft