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Wenn es mit dem Erziehen vorbei ist

Vater-fuehrt-sein-kindVerzweiflung macht sich bei so manchen Eltern breit, wenn das Kind einfach nicht mehr „hören“ will.

Interview mit Mathias Voelchert in der Zeitschrift “Kinderstube”

Weder gutes Zureden, noch Druckmittel helfen – Tochter oder Sohn machen einfach, was sie wollen. Was können und was sollten Eltern tun, um diese Situation für sich und das Kind konstruktiv zu gestalten? Jürgen Magister hat mit Mathias Voelchert, Autor und Gründer des Projektes Familienwerkstatt in Deutschland (familylab.de), gesprochen.

Haben Eltern eine Chance, ihr Kind zu erreichen, wenn es sich allen Bemühungen verweigert?

Es kommt darauf an, was die Eltern wollen. Wenn es ihr einziges Ziel ist, dass das Kind sein widerspenstiges Verhalten ablegt, d. h. ein freundliches Kind wird, das alles tut, was die Eltern sagen, also ein Befehlsempfänger wird, der einem Automaten gleicht, dann geht es in die Hose. Das funktioniert nicht. Das probieren ja Lehrer Tag für Tag, das probieren auch Eltern tagtäglich und das Resultat ist eben ein Kind, das nicht mehr reagiert, weil es schon zu oft dasselbe gehört hat. Es macht einfach die Ohren zu und meint: Damit kann ich nichts mehr anfangen. Nur wenn die Eltern bereit sind, in ihrem Verhältnis zum Kind etwas zu ändern, besteht die Chance, dass sich das Kind wieder öffnet. Dazu müssen sie erst einmal erkennen, dass die Verantwortung für die unerträgliche Situation nicht beim Kind liegt, sondern bei den Eltern oder bei den Erwachsenen, die um das Kind herum sind. Kinder kommen kompetent, willig und interessiert auf die Welt und werden erst zu dem, was sie sind, z. B. störrisch oder nicht mehr erreichbar, durch das Verhalten der Eltern. Den meisten Erwachsenen ist dies gar nicht bewusst, glauben, ihr Bestes zu geben.

Was können die Eltern tun?

Als Erstes sollten sie dem Kind sagen: „Was wir bisher getan haben, hat nicht funktioniert. Jetzt müssen wir zusammen überlegen, was wir stattdessen tun können.“ Und sie sollten das Kind fragen, ob es überhaupt bereit ist, dies zu tun? Es kann gut sein, dass das Kind sagt: „Nein, im Moment habe ich keine Lust mehr, von euch was zu hören.“ Ich stelle mir einen Acht- oder Zwölfjährigen vor, der unerreichbar scheint. Dem muss man erst mal offen eingestehen: „Mein Lieber, was wir bisher getan haben, war nicht besonders gut für unsere Beziehung. Nun hast du die Verbindung gekappt. Du willst nichts mehr von uns hören.“ Wenn man das Kind auf diese Weise anspricht, sagt es meist im selben Moment: „Das stimmt nicht. Ich will nur nicht immer dasselbe von euch hören. Aber ich bin interessiert an dem, was ihr sagt.“ Und das sind sie sehr wohl, denn die Eltern haben eine unglaubliche Bedeutung für sie.

Was sind das für Sätze, die nicht funktionieren?

„Ich habe dir schon hunderttausend Mal gesagt, du sollst das und das machen.“ Das hat die Bankrotterklärung schon in sich: Ich habe schon oft gesagt. Wenn es nicht funktioniert, muss ich mir überlegen, warum. Die billige Methode ist, die Formulierungen zu ändern. Aber damit wird man nicht weit kommen. Die weit schwierigere Methode ist es, vom Gehorsamsprinzip wegzukommen: Ich sage dir, was du zu tun hast, und du machst es. Das ist wichtig in lebensbedrohlichen Situationen. Zum Beispiel, wenn das Kind über die Straße rennen will und ein 40-Tonner angebraust kommt. Dann gibt es keine Zeit mehr zu diskutieren, dann muss ich befehlsartig sagen: „Du bleibst jetzt stehen!“, und das Kind obendrein festhalten.

Und ansonsten?

Ansonsten ist ja der Normalfall, nicht wahr? Der Normalfall ist, dass das Kind in tagtäglichen Situationen nicht so ist, wie es die Eltern wollen. Dass es früh nicht aufsteht, zum Beispiel. Dann müssen wir weg vom Gehorsamsprinzip, was ich dir sage, musst du machen, und hin zum Verantwortungsprinzip. Das Kind muss selber erkennen, dass es gut ist, früh in die Schule zu gehen. Dabei geraten wir in eine große Diskussion. Das Kind sagt zum Teil berechtigt: „In diese Schule will ich nicht mehr. Ich krieg immer Bauchweh, wenn ich mit diesem Lehrer zu tun hab.“ Oder: „Ich weiß gar nicht, warum ich in die Schule gehen soll.“ Das sind ja wichtige Fragen, über die man reden muss. Das muss ich als Vater oder Mutter ernst nehmen und mich damit beschäftigen. Und wenn das Kind merkt, dass ich es ernst nehme, das Gespräch mit ihm suche, dann ist eine neue Tür offen.

Wie bewerten Sie Strafen, wenn das Kind nicht macht, was es soll?

Willst du nicht mein Bruder sein, schlag ich dir den Schädel ein. Das ist ja die Gehorsamskultur. Aus der kommen wir ja. Wir kommen aus einer Zeit, wo gerade in Deutschland mit dem Nationalsozialismus Befehlsstrukturen und Obrigkeitshörigkeit Grundlage der Gesellschaft waren. Und das steckt noch tief in den Familien drin. Deshalb tun sich die heutigen Eltern so schwer, weil die Befehlsstruktur nicht mehr funktioniert. Und die Kinder alles machen zu lassen, was sie wollen, also antiautoritäre Erziehung, funktioniert auch nicht.

Die Eltern sollten den Kindern also Grenzen setzen?

„Man muss den Kindern Grenzen setzen“ – das ist der dümmste Spruch, den es überhaupt gibt. Das ist ja leider wie eine Erziehungskultur explodiert. Wenn ich zum Beispiel sage: „Du darfst keinen Alkohol trinken“, da bestimme ich, was das Kind zu tun hat. Aber es geht darum, dass die Eltern ihre eigenen Grenzen benennen: „Ich will nicht, dass du Alkohol trinkst“. „Ich will nicht, dass du das und das tust …“ Das ist eine ganz andere Situation. Dann erkennen die Kinder ihren Vater oder ihre Mutter in ihrem Wollen.

Und die Kinder entscheiden selbst, was sie tun?

Das gehört dazu. Das ist Erwachsenwerden und Verantwortlichwerden. Und natürlich schießen sie manchmal daneben und machen das Unerwünschte trotzdem. Und natürlich hat es auch manchmal schlimme Folgen. Aber dann wissen sie, der Vater hat es vorhergesagt, ich habe es gemacht, es ist schiefgegangen, das war blöd von mir. Diese Erfahrungen müssen Kinder machen. Vor denen können wir sie nicht bewahren durch Gehorsamserziehung. Nur so wächst ein verantwortlicher Mensch heran, der über sein eigenes Schicksal entscheiden kann und soziale und persönliche Kompetenz hat.

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Photo by Daiga Ellaby on Unsplash

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