„Ein Kind ist für mich niemals Systemsprenger“

von Prof. Dr. Menno Baumann,
er ist Prof. an der University of Applied Sciences, Fliedner Fachhochschule Düsseldorf, Lehrgebiet: Intensivpädagogik, Soziale Arbeit – Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe, sowie Bereichsleiter und Fachberater im Leinerstift e.V., Evangelische Kinder-, Jugend- und Familienhilfe.

Der Film „Systemsprenger“ bewegt, war zum „Oskar” nominiert. Der Film stellt ein 9-jähriges Mädchen in den Mittelpunkt (dargestellt von Helena Zengel, sie erhielt den Deutschen Filmpreis für die beste weibliche Hauptrolle), das einen Leidensweg zwischen wechselnden Pflegefamilien, Aufenthalten in der Psychiatrie und Heimen und erfolglosen Teilnahmen an Anti-Aggressions-Trainings durchläuft. Quelle: Deutschlandfunk, Interview Timo Grampes

Interviewer, Timo Grampes: Wir hören Fallgeschichten und wir bekommen eine Menge Antworten in dieser Systemsprenger-Sendung. Und zwar von dem Mann, der in Deutschland wohl wie kein zweiter für die Forschung zu Systemsprengern steht. Er hat auch das Filmteam beraten. Menno Baumann ist da. Hallo!

Menno Baumann: Guten Tag!

Timo Grampes: Und damit jeder weiß, mit wem wir es zu tun haben, noch ein paar Fakten zu Ihnen. Professor für Intensivpädagogik an der Fliedner Fachhochschule in Düsseldorf sind Sie. „Intensivpädagogik“ heißt?

Baumann: Die Assoziation „intensiv“ klingt ja immer nach so einer Intensivmedizin, immer ein bisschen mehr. Also von daher ist Intensivpädagogik immer so ein bisschen die Pädagogik, die augenscheinlich ein bisschen spezieller zu sein scheint. Kinder, die besondere Bedürfnisse haben, brauchen auch besonders gute Pädagogik. Die unterscheidet sich im Großen und Ganzen aber nicht von dem, was allgemein gute Pädagogik wäre. Nur dass es Kinder gibt, die da sehr viel weniger fehlertolerant sind, als andere.

Grampes: Und die fallen dann in diesen Bereich. Sie sind auch Leiter des therapeutischen Fachdienstes beim Leinerstift. Das ist ein freier Träger der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe im ostfriesischen Großefehn. Was tun Sie da?

Baumann: Aktuell ist meine Hauptaufgabe, ein interdisziplinäres Team aus Pädagogen, Psychologen und Psychotherapeuten zu begleiten, zu leiten, die unsere Wohngruppen und unsere pädagogischen Angebote unterstützen.

Grampes: Sie switchen regelmäßig also nicht nur zwischen Düsseldorf und Großefehn, sondern auch zwischen Theorie und Praxis. Warum?

Baumann: Weil ich immer bei diesen Themen, mit denen ich mich beschäftigt habe, gedacht habe: Wenn ich den Kontakt zu dem verliere, was es bedeutet, wenn ich die tägliche Arbeit darin verliere, dann kann ich das auch nicht seriös abarbeiten in einem wissenschaftlichen Sinne. Von daher war mir die Praxisfühlung immer zu wichtig. Und das Zweite ist, dass mir die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen und vor allen Dingen mit den Pädagogen im Feld auch viel zu viel Spaß gemacht hat. Also, ich hätte mir nie vorstellen können, nur Hochschullehrer zu sein.

Grampes: Im Feld waren Sie ja auch lange als Sonderschullehrer. Und dann noch ein Fakt. Es gibt ein aktuelles Buch von Ihnen, daraus hören wir Fallbeispiele: „Kinder, die Systeme sprengen, Band 2“. Sprechen wir erst mal darüber, wer genau eigentlich Systemsprenger sind und welches Konfliktpotenzial der Begriff hat. Also, wann ist ein Kind für Sie denn ein Systemsprenger? Und vielleicht machen wir das auch gleich an Benni fest aus dem Film.

Baumann: Ein Kind ist für mich niemals Systemsprenger. Sonst würde der Film auch „Systemsprengerin“ heißen. Da ist sich eine Regisseurin, Mitte 30, durchaus der gendergerechten Sprache bewusst. Das Wort „Systemsprenger“ steht eindeutig in der Mehrzahl. Aus meiner Sicht ist „Systemsprenger“ die Bezeichnung für ein Prozessgeschehen, an dem es viele Beteiligte gibt. Im Mittelpunkt steht in der Regel ein Kind.

Aber zu sagen, das Kind ist ein Systemsprenger, ist in etwa so originell als, etwa wenn ein Arzt sagt, hier liegt unser Schädel-Hirn-Trauma nach Sturz. Im Krankenhausbett liegt ein Mensch und der hat aus medizinischer Perspektive ein Schädel-Hirn-Trauma mit Sturz, aber er ist kein Schädel-Hirn-Trauma nach Sturz. Und das ist im Prinzip bei den Systemsprengern eine ähnliche Geschichte. Das Kind in seiner Lebensgeschichte und innerhalb der pädagogischen Hilfen eskaliert. Und das hängt von vielen Faktoren ab. Von der Biografie des Kindes, aber natürlich auch von Systembedingungen.

Also, ich sage mal, wenn ein Klassenlehrer das Glück hat, über Jahre dieselbe Klasse zu haben. Er hat eine gute Klassengemeinschaft. Er hat vielleicht nur 20 statt 28 Schüler drin. Dann kann in einer solchen Klasse ein im Verhalten schwieriges Kind sicherlich besser zurechtkommen, als bei ständig wechselnder Lehrerschaft, Vertretungssituationen, lange krankgeschriebenen Klassenlehrern, schlechter Stimmung im Kollegium, hoher Stressfaktor der Kinder untereinander.

Dann kann so ein ganz Normales, ich sage mal, „Feld-, Wald- und Wiesen-ADHS“, der Tropfen sein, der alles zum Überlaufen bringt. Und dann geht plötzlich gar nichts mehr. Das heißt, der Faktor liegt nicht alleine im Kind. Und das ist etwas, was man bei Benni sehr schön sieht. Benni hat natürlich Verhaltensspitzen. Und macht Dinge, von denen man sagen muss, das geht so nicht. Ist anderen Menschen nicht zumutbar. Das bringt Erzieher auch an ihre Grenzen, wenn man das jeden Tag immer und immer wieder macht.

Grampes: Gewalt vor allen Dingen?

Baumann:
Genau. Gewalt. Aber den Michael überwältigt sie ja anders. Der kann mit ihrer Gewalt gut umgehen.

Grampes: Der Erzieher?

Baumann: Der Erzieher Michael, mit dem sie in den Wald geht. Der kann mit ihrer Gewalt ganz gut umgehen, aber da schmeißt sie sich dann emotional so dicht heran, dass er überfordert ist. Und das ist so dieser Aspekt: Einerseits haben wir die Verhaltensweisen des Kindes, andererseits haben wir ein völlig hilfloses Helfersystem, das häufig gar nicht weiß, wonach es sucht. Und selbst, wenn es weiß, wonach es sucht, dieses oft gar nicht findet.
Es gibt auch gar nicht immer das spezielle Angebot. Und dann weiß man gar nicht, was brauche ich denn, um diesem Kind zu helfen? Weil ich gar nicht die Zeit habe, diese Frage zu stellen. Sondern ich muss bis nächsten Freitag einen Platz haben, wo dieses Kind wohnen kann. Und da nehme ich irgendwas. Ich finde diese Szene im Film wunderschön, wo Benni in der zweiten Wohngruppe vorgestellt wird. Da sind acht andere Kinder. So wie man das auf den ersten Blick sieht, alles liebe, brave Kinder. Sie kommt dort als neuntes Kind und dort ist ein Erwachsener. Der hat aber noch keine Akte und nichts gelesen. Da hat er keine Zeit für. Das kann mir kein Mensch erzählen, dass irgendjemand geglaubt hat, dass das gut geht. Aber es ist der Mangel an Alternativen. Und das sind die Aspekte, wo man sagen muss, das System dreht an den Schrauben genauso kräftig mit, wie das Kind.  (Auszug ungekürzt mit dem Link)

Quelle: Deutschlandfunk, Interview / Redaktion von Timo Grampes

Das ganze Gespräch hören (1h:15min)

Auf massiv störende Verhaltensweisen von Schülerinnen und Schülern reagieren. Mit Online-Material

Dieses Buch befasst sich mit Kindern und Jugendlichen mit massiv störenden Verhaltensweisen, die pädagogische Prozesse in Schulen zu lähmen scheinen. Es zeigt Schulen und Lehrkräften innovative Herangehensweisen auf, wie sie mit diesen Schüler/innen effektiv arbeiten und ihnen Halt geben können – und so von ihnen wieder ernst genommen werden.

Eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern scheint die pädagogischen Prozesse in Deutschlands Schulen zu lähmen: Kinder und Jugendliche mit massiv störenden Verhaltensweisen. Durch sie stoßen selbst inklusive schulische Bildungsprozesse an Grenzen, denn mit ihnen ist Unterricht kaum mehr möglich und das Schulleben nicht mehr für alle förderlich.


Dieses Buch zeigt innovative und konkrete Herangehensweisen, wie mit höchst schwierigen Schülerinnen und Schülern effektiv gearbeitet werden kann. Es vermittelt, wie Schulen und Lehrkräfte für alle »tragfähig« und ein ernst zu nehmendes Gegenüber werden können. Dabei geht es sowohl um zentrale Aspekte eines jeden Schullebens, wie z. B. die Gestaltung der Kommunikation, des Miteinanders oder des Lernumfelds, als auch um sinnvolle Kriterien für Projekte für Schüler/innen, die mit »normalen« Unterricht nicht mehr zu fördern sind.

 Kinder die Systeme sprengen, fordern uns dazu heraus, mit den Gefühlen umzugehen, die sie in uns auslösen.
Quelle: YouTube, Vortrag von Prof. Dr. Menno Baumann

„Als die Adoptiv-Eltern von Maria erkennen konnten, dass sie ihr Kind doch verdammt lieb hatten –  nach allem was geschehen war – war eine Veränderung der Situation erst möglich. Doch davor mussten sie zuerst ihre Wut verändern, ihre Wut darauf, dass sie ein ganz anderes Kind erwartet hatten, als sie bekommen hatten. Menno Baumann spricht in diesem Vortrag über die Unmöglichkeit einer Antwort auf die Frage: Was tun, wenn wir nicht mehr weiter wissen? – Kinder die Systeme sprengen.“

„Es geht um Hoch-Risiko-Kinder. Risiko in zweifacher Hinsicht: Kinder die hohen Risikofaktoren ausgesetzt waren, um Kinder die Ausgrenzungserfahrungen gemacht haben, traumatisiert sind. Und Risiko, das von diesen Kindern ausgeht.

Das Kernthema dieser Kinder sind Brüche. Brüchigkeit in den Kernfamilien, Brüchigkeit in den Biographien, aber auch Brüchigkeit pädagogischer Systeme. So werden einige Kinder durch die Systeme durchgereicht: „Das können wir hier nicht leisten, der braucht was anderes, was intensiveres.“ So werden Kinder durchgereicht. Der alte Streit: Ist es ein pädagogisches Problem oder ein therapeutisches… Es gibt kein rein therapeutisches Problem. Wir werden uns der Verantwortung stellen müssen. Um von einer Therapie profitieren zu können, muss ich in meinem Leben ein Mindestmaß an Sicherheit empfinden. Sicherheit herstellen, ist eine erzieherische Aufgabe, keine medizinische.

Wenn ein Kind sich unter pädagogischen Bedingungen gut entwickelt, dann wird zur Belohnung die päd. Aufmerksamkeit heruntergeschraubt, werden Maßnahmen beendet, Hilfen zurückgefahren. Das bedeutet aus Sicht des Kindes, je besser ich in einer Maßnahme mitarbeite, desto schneller ist der Sozialarbeiter, mit dem ich versucht habe eine Beziehung aufzubauen, wieder weg…“

Den ganzen Vortrag von Menno Baumann auf YouTube ansehen

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