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Überzeugen, motivieren und manipulieren hilft nicht • Erziehung Autonomer Kinder

Jesper Juul (1948-2019) war einer der bedeutendsten und innovativsten Familientherapeuten Europas, Konfliktberater und Gründer des Elternberatungsprojekts „familylab international“. Durch zahlreiche Seminare, Vorträge, Medienauftritte und erfolgreiche Elternbücher wurde er international bekannt.

Der Familientherapeut Jesper Juul, der an der Autoimmunkrankheit Transverse Myelitis litt, die ihn brustabwärts lähmte, starb 2019. Das Buch „Dein selbstbestimmtes Kind“, das in enger Zusammenarbeit mit seinem Kollegen und Partner Mathias Voelchert (Gründer und Leiter von familylab bis 2022)  entstanden ist, erschien 2019.

Woran erkennt man selbstbestimmte Kinder?

Es gibt Kinder, deren Streben nach Unabhängigkeit und Autonomie weit über das gewohnte Maß hinauszugehen scheint. Ihr ausgeprägter Wille, selbst Stellung zu beziehen und eigene Entscheidungen für sich zu treffen, überfordert viele Eltern.
Autonome Kinder kommen „fertig“ auf die Welt. Ihre Gesichtszüge sind reifer als die anderer Kinder. Häufig lehnen sie übermäßige körperliche Nähe ab, Fremden gegenüber verhalten sie sich konsequent distanziert. Eltern von selbstbestimmten Kindern haben möglicherweise das Gefühl, ihr Kind wäre „speziell“, weil es schon sehr früh klar kommuniziert, was es will und diesen Willen auch knallhart durchdrückt.
Doch im Gegensatz zu kleinen Tyrannen und aggressiven Kindern, die emotional vernachlässigt wurden, verhalten sich selbstbestimmte Kinder sozial gegenüber Gleichaltrigen und Bezugspersonen – solange man ihnen den Freiraum lässt, den sie für ihre Entwicklung benötigen. Sie haben sensible Antennen für Widersprüche und dafür, ob ein Erwachsener authentisch ist, sich also seinen Werten entsprechend verhält, oder ob er nur Wasser predigt und selbst Wein trinkt.

Drei Tipps im Umgang mit selbstbestimmten Kindern

  1. Bieten Sie ein Büfett an, an dem sich ihr selbstbestimmtes Kind bedienen kann. Dieses Büfett sollte mit all der geistigen und psychologischen „Nahrung“ gefüllt sein, die das Kind braucht. Aber: Das Kind hat die Freiheit, über das Was und Wann zu entscheiden. Das erspart ihm den Schmerz, einen geliebten Erwachsenen abweisen zu müssen. Jesper Juul: „Selbstbestimmte Kinder haben genau dieselben Bedürfnisse wie andere Kinder, müssen aber selbst über Zeitpunkt, Ort und Menge der ‚Nahrung‘ bestimmen können. Wie? Man zählt einfach auf, was zur Verfügung steht – entweder per E-Mail, Snapchat oder indem man ein Bild malt –, und sagt seinem Kind, dass es aus diesem Angebot auswählen könne, sei es in einer Stunde, morgen, in drei Wochen oder in einem halben Jahr. Die Eltern brauchen sich nicht zu sorgen, das Kind könne ihr Angebot missbrauchen. Selbstbestimmte Kinder haben ein ausgeprägtes Gespür und großen Respekt vor den Grenzen anderer.“ Wichtig: Seien Sie vorsichtig mit dem Wort „Lust“ („Nimm dir, worauf du Lust hast.“). Das gilt im Prinzip für alle Kinder, doch in diesem Fall ist es besonders wichtig, von „wollen“ zu sprechen. „Nimm dir, was du willst.“ Das korrespondiert mit dem Bedürfnis des Kindes nach Selbstbestimmung, was etwas ganz anderes ist, als sich vom Lustprinzip leiten zu lassen.
  2. Grenzen Sie sich ab und bleiben Sie authentisch. Eltern stehen vor der großen Herausforderung, Kindern einerseits den Raum zu geben, den sie benötigen und andererseits sinnvolle Grenzen zu setzen. Wie das aussehen könnte, macht Juul anhand von Dialogen deutlich, die er in seinem Buch kommentiert:
    Tochter: „Papa, bringst du mich nachher ins Bett?“
    Vater: „Ja, gern. Was meinst du, welche Zeit passen würde?“
    Tochter: „So um neun.“
    Vater: „Das ist mir zu spät. Nach neun ist nur Papa-Zeit, wenn du krank bist. Sonst ist das meine Erwachsenen-Zeit.“
    Tochter: „Okay, dann geh ich eben allein ins Bett. Aber kannst du mir um halb neun noch was vorlesen?“
    Vater: „Das tue ich gern.“

Jesper Juul erklärt: „In diesem Fall sorgt der Vater für ein gleichwürdiges Verhältnis, indem er sich abgrenzt, statt seiner Tochter Grenzen zu setzen. Sie ist sieben Jahre alt und weiß genau, dass ihre Eltern finden, sie ginge zu spät ins Bett. Das haben sie ihr schon klargemacht, als sie noch fünf war, deshalb müssen sie es nicht jeden Abend wiederholen. Falls sie es täten, würden sie ihrer Tochter vermitteln, dass sie schwer von Begriff sei.“

Mit selbstbestimmten Kindern kann man schon sehr früh wie mit einem Erwachsenen reden. Nach 15 Monaten können Sie Ihre Diskantstimme (eine Oktave höher als normal) und die vereinfachte Baby-Sprache allmählich aufgeben. Von diesem Zeitpunkt an lohnt es sich, eine erwachsene Sprache zu benutzen – und zwar keine akademische oder distanzierte, sondern eine persönliche Sprache, die Ihre Werte, Gedanken und Gefühle in der jeweiligen Situation zum Ausdruck bringen.

  1. Teilen Sie Ihre Bedürfnisse mit. Überzeugungsarbeit, Motivations- oder gar Manipulationsversuche laufen bei selbstbestimmten Kindern ins Leere. In Wahrheit sind das schlechte Angewohnheiten, die nicht von Empathie zeugen. Im Verhältnis zu selbstbestimmten Kindern und Jugendlichen kommt es insbesondere darauf an, dass der Erwachsene das Nein der Kinder zur Kenntnis nimmt, persönlich darauf reagiert und mit aufrichtigem Interesse nach der Begründung fragt.Mutter: „Ich finde, du solltest dein Zimmer ein wenig aufräumen, bevor du heute Abend ins Bett gehst.“
    Kind: „Ich will aber nicht.“
    Mutter: „Es irritiert mich ein bisschen, dass es bei dir so unordentlich ist. Weißt du, warum du nicht willst?“
    Kind: „Ich hab eben keine Lust.“
    Mutter: „Hast du was anderes vor?
    Kind: „Wenn ich keine Lust hab, dann hab ich eben keine Lust!“
    Mutter: „Darf ich ein bisschen Reklame für meinen Vorschlag machen oder soll ich damit warten?“
    Kind: „Warten.“
    Mutter: „In Ordnung, aber ich werde heute noch darauf zurückkommen. Länger will ich nicht warten.“

Fazit
Die unbeugsame Haltung willensstarker, selbstbestimmter Kinder sind im Alltag schlicht unbequem und stoßen meist weder bei Eltern noch bei Lehrern auf Verständnis. Jesper Juul plädiert in seinem Buch für ein offenes und authentisches Miteinander anstelle von Machtkämpfen, Manipulation oder gar Kapitulation.

Der renommierte Familientherapeut beantwortet über dreißig konkrete Fragen von betroffenen Eltern und zeigt, wie Eltern, Lehrer und Erzieher selbstbestimmte Kinder bestmöglich unterstützen und in ihrem Streben nach Autonomie fördern können und dabei gleichzeitig ihre eigene Integrität wahren.

Quelle: Bild

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Photo by Max Goncharov on Unsplash

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