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Die Geschichte vom wilden Benno und seiner Mutter

Aufgezeichnet von einer familylab-Trainerin

Ich bin Pädagogin in einer Spielgruppe und arbeite dort mit einer Kollegin. Die Spielgruppe ist ein offenes, kostenfreies, niederschwelliges Angebot für Kinder mit ihren Eltern von 0-3 Jahren. Die Eltern kommen gemeinsam mit ihren Kindern zu uns. Meist finden sie uns über andere Eltern, das Internet oder Hören-Sagen.

Ich möchte eine ganz besondere Geschichte aus meiner Arbeit erzählen, welche uns zwei Pädagoginnen viel über uns und die tägliche Arbeit mit den Kindern gelehrt hat. In unsere Gruppe kam ein kleiner Junge mit seiner Mama kurz vor seinem 3. Geburtstag. Eine Nachbarin hatte ihnen von uns erzählt.

An dem Tag, als sie das erste Mal zu uns kamen, begrüßte ich beide freundlich und bekam einen sehr skeptischen Blick dieses kleinen Jungen auf meine Begrüßung, fast schon feindselig. Also gab ich ihnen etwas Zeit um anzukommen, um den Raum und all das Spielzeug zu entdecken.  Nach einer gewissen Zeit bewegte ich mich auf die Mutter zu, setzte mich dazu und versuchte mit Benno Kontakt aufzunehmen, was sehr schlecht gelang. Also ging ich ein wenig mit der Mutter ins Gespräch. Oft fragen wir Eltern zu Beginn, wo sie denn herkommen und wie sie uns gefunden haben. In einem ihrer ersten Sätze sagte die Mutter bereits, dass sie und ihr Kind eine besondere Geschichte miteinander hätten und benannte sofort allerhand Probleme. Benno zeige sehr aggressives Verhalten, aus einer Krippen-Gruppe, in welche er mit einem Jahr kam, wurden sie ‘rausgeworfen’, der Alltag zuhause gestalte sich schwierig, Kontakt zu anderen Kindern sei überhaupt nicht möglich. Das alles kommentierte ich nicht sondern nahm vorerst meine Aufgabe darin wahr, diesem Kind eine positive Gruppenerfahrung zu ermöglichen, damit altes und vergangenes und negativ behaftetes, neu überschrieben werden kann.

 

Ich sagte der Mutter, dass ich es toll finde, dass sie da sind (trotz negativer Erfahrungen) und dass ich glaube, dass es möglich sei andere Gruppenerfahrungen zu sammeln.

In unserem Gespräch wurden wir von Benno mehrfach unterbrochen. Meistens schmiss das Kind sich dabei der Mama an den Hals oder auf den Schoß. Dabei fiel schnell auf, dass er kein Gefühl für die Grenze zu spüren schien und seine Mutter ihm keine Grenze aufzeigte, wenn er wie wild auf ihrem Schoß herum kletterte. Er wurde außerdem sehr laut und plötzlich drehte die Mutter sich zu ihm und sagte: „Ja ich verstehe, ich rede schon wieder zu viel“.

Ich muss wohl etwas verwirrt geschaut haben, denn sie erläuterte dann mir gegenüber, sie habe mit ihrem Sohn ausgemacht, dass er ihr Bescheid geben solle, wenn es für ihn zu lange dauert oder Mama zu viel redet, bevor ‘schlimmeres’ passieren würde. Ich war etwas überrascht über diesen Satz, kommentierte aber nichts, sondern fragte die Mutter, was denn mit Kindergarten gedacht sei, er sei ja schon fast drei Jahre alt. Die Mutter erzählte mir dann, dass die gescheiterte Krippenerfahrung damals gezeigt habe, dass er Mama einfach noch sehr bräuchte. Sie sagte, das sei ja kein Problem, sie habe aufgehört zu arbeiten und sei nun mit ihm zuhause und wenn er so vier oder viereinhalb Jahre alt sei, könne man doch immer noch gut im Kindergarten starten? Formulierte sie als Frage an mich.

Ich stimmte ihr zu, ergänzte dann aber, dass ich glaube, dass Kinder ab einem gewissen Alter oft mehr brauchen als das, was Mama zuhause so bieten kann und sich auch nach Gleichaltrigen ausstrecken. Außerdem sei eine Gruppe, in der es bestimmtes soziales Miteinander gibt und auch ein paar klare Regeln eine wichtige Lernerfahrung für jedes Kind. Ich fragte sie, ob sie denn ihren Beruf gern ausgeübt habe und sie sagte mit einem strahlenden Gesicht: „Ja, ganz gerne.“

An diesem Tag bot sich keine weitere Gelegenheit zum Gespräch, so hatte ich die Möglichkeit diese beiden aus etwas Entfernung immer wieder zu beobachten. Es fiel uns beiden Kolleginnen sehr deutlich auf, dass Benno keinerlei Gefühl für Grenzen kannte, weder seine eigenen, noch die von Anderen. Immer wieder rannte er wild durch den Gruppenraum, trat dabei auf aufgebaute Schienen und Lego von anderen Kindern, rammte gegen irgendwelche Möbel, schmiss sich wild seiner Mutter auf den Schoß, rammte seinen Kopf gegen ihren Kopf und beim Laufen schubste er Kinder in seinem Weg einfach zur Seite. Die Mutter hatte damit sichtlich Stress, war in jeder einzelnen Sekunde neben ihrem Kind und ermahnte schon bevor ihr Sohn irgendetwas tat, ständig zur Vorsicht und Achtsamkeit und redete ziemlich viel auf ihn ein. Dabei blieb sie sehr liebevoll und fürsorglich in ihrer Wortwahl und dem Ton. Benno reagierte allerdings wenig oder gar nicht auf ihre Worte.

Uns beiden Pädagoginnen war schnell klar, dass hier Hilfe nötig sein würde, wenn die Mutter bereit sei, sich darauf einzulassen und so war unser wichtigstes Ziel an diesem Tag, beiden eine gute Zeit zu bieten und eine Beziehung aufzubauen. Wir versuchten auf Benno zuzugehen und ihn mit einzubeziehen, ganz egal was vorher passiert war. Wir versicherten zeitgleich der Mutter, dass oft Kinder zu uns kommen, welche in der Gruppenerfahrung mit anderen Kindern erst einmal zu tun haben und neu lernen müssen. Spielzeug teilen, achtsam sein, um Spielzeug verhandeln usw. sind Themen, die bei vielen Kindern nicht von Anfang an einfach sind, sondern die durch Beobachten und Ausprobieren und aber auch durch liebevolle Führung über die Zeit erlernt werden. Uns Pädagoginnen war schnell klar, dass diese Mutter über die letzten Jahre viele negative Erlebnisse mit ihrem Kind hatte und außerdem negative Gruppenerfahrungen gemacht hatte. Somit waren wir froh, als sie am Ende des Tages sagte, dass es ihr bei uns gefallen habe und sie daher bald wiederkommen wollte.

So kam es, dass Benno bald jeden Tag in unsere Gruppe kam. Um die Grenzen der anderen Kinder im Gruppenraum zu erkennen und zu achten, erklärten wir der Mutter, dass es von großer Wichtigkeit sei, dass sie auch zuhause für ihre Grenzen einsteht und sich nicht von ihrem Kind beklettern oder mit dem Kopf rammen, geschweige denn kneifen oder hauen lässt, sondern an diesem Punkt klare ‘Stopp’-Signale sendet. Für die Mutter war genau dieser Aspekt unglaublich schwer. In der ersten Zeit sendete sie ein ‘Stopp-Signal’ mit einem lieblich gesäuselten ‘Nein’, was keinerlei Wirkung auf ihr Kind hatte. Außerdem zog sie sich wahnsinnig viel mit dem Kind zurück (unter den Tisch, auf das Sofa…usw.) oder war permanent neben ihm. Dann änderte sie ihre Haltung und wurde energischer und auch lauter, wenn sie Benno eine Grenze setzte, was die Situationen mit ihrem Sohn oft noch schlimmer machte.

Auch wir mussten ihn immer wieder begrenzen, da er in der Gruppensituation häufig gezielt kleinere Kinder attackierte. Er zeigte dabei aggressives Verhalten, was scheinbar aus dem Nichts plötzlich über ihn kam, ganz ohne sichtbaren Auslöser. Die Eltern mit den kleineren Kindern begannen ängstlicher und vorsichtiger zu sein, wenn er in ihre Nähe trat, sie beobachteten ihn genau und somit waren ‘normale’ Spielkontakte kaum möglich.

Trotzdem fanden wir zwei Erwachsenen, mit der Zeit, beide einen guten Kontakt zu dem Kind. Benno schien in Eins-zu-Eins-Spielsituationen sichtlich entspannt und erfreut darüber zu sein, dass er hier und bei uns willkommen war und wir ihn auf seine ganz eigene Art und Weise richtig süß fanden. Außerdem fiel uns schnell auf, was für ein intelligentes Kind er war und wie viel Freude er entwickeln konnte, wenn sein Kopf gefordert war. Knallte er nach solch schönen Spielsituationen wieder mit Kindern aneinander, hinterließ uns das oft ratlos, traurig, manchmal auch richtig wütend.

In unseren Teamsitzungen gab es fortan immer wieder das Thema, wie wir weiter damit umgehen würden, wie wir es schaffen könnten diesem Kind eine positive Gruppenerfahrung zu ermöglichen, so dass ein Eintritt in den Kindergarten denkbar wird. Wir tauschten uns immer wieder über unsere Beobachtungen und Wahrnehmungen der Beiden aus. Dabei wurde schnell klar, dass die Situationen, in welchen wir Benno begrenzen, oder auch die Mutter ihn begrenzt, immer wieder riesige Konflikte und noch mehr aggressives Verhalten auslösten. Uns fiel auch auf, dass die Mutter ihm ‘jegliche Luft und Freiraum’ zum einfach mal sein und schauen und sich in der Gruppe bewegen, nahm. Ständig war sie kommentierend neben ihm und redete unglaublich viel auf ihn ein. Außerdem wurde uns langsam bewusst, dass die Mutter unsere Informationen (achte auf deine Grenzen, lass ihm etwas Freiraum, rede nicht zu viel) nur sehr schwer umsetzen konnte. Fast schon wirkte es manchmal so, als wollte sie gar nicht, dass sich an diesem Thema etwas verändert.

Irgendwann bat sie dann um ein Gespräch. In dem Gespräch mit meiner Kollegin war es für uns ein klares Ziel zu erfahren, ob sie Hilfe möchte oder nicht. Sie erzählte, dass ihre oberste Priorität sei, dass das Kind irgendwann in den Kindergarten gehen könne und dass sie dafür unsere Hilfe benötige.

Mit diesem klaren Ziel vor Augen konnten wir neu starten und machten uns in weiteren Teamsitzungen Gedanken darüber, warum Benno immer wieder aus dem Nichts in aggressives Verhalten umschlägt. Außerdem redeten wir darüber, wie wir ihm Grenzen setzen könnten, ohne dass danach immer wieder die Bombe explodiert.

Dabei wurde uns klar, dass auch wir oft in den Begrenzungen viele Worte benutzten und er ja sowieso ständig viele Worte von seiner Mutter hört, welche sich nicht selten sehr auf der moralischen Ebene bewegten (wegen dir weint der jetzt…dann können wir eben hier nicht mehr spielen…deine Erzieherinnen sind da ganz traurig…usw.).

Wir fassten den Entschluss, für Benno zukünftig die Begrenzungen kurz und bündig zu formulieren und einigten uns darauf, so konkret wie möglich dabei zu sein: „ich will…“ „ich will nicht…“. So starteten wir in die nächsten Wochen und stellten fest, dass kurze, klare und persönliche Sätze in Ich-Botschaften Wunder bewirkten. Innerhalb kürzester Zeit war es Benno in unserer Gruppe möglich, sich frei zu bewegen und Grenzen von anderen zu respektieren. Vor allem aber tat es ihm sichtlich gut, dass wir immer nach Streitsituationen und Zusammenstößen einfach weiter mit ihm spielten. Man hatte fast den Eindruck, dass es eine neue Welt für ihn war. Benno entspannte sich zusehends und es kam mehr von seiner zauberhaften, neugierig intelligenten, durchaus auch sehr mitfühlenden Art zum Vorschein.

Für uns war es wunderschön zu erleben, wie ein kleiner Mensch sich entspannte und einfach so sein konnte, wie er ist.

Durch Benno konnten wir lernen, was es wirklich bedeutet, wenn man Verhalten und Person trennt. Sein Verhalten forderte immer wieder ganz klare Signale von uns. Benno als Person aber war nicht in Frage gestellt.

Trotzdem erzählte die Mutter uns immer wieder von vielen Konflikten zuhause und am Wochenende. Auch wir konnten beobachten, wie sich Konfliktsituationen zuspitzten, wenn die Mutter viele Worte an ihn richtete, oder manchmal schon in dem Moment, in dem sie den Raum betrat in welchem er gerade spielte.

In unsere Gruppe kommen die Eltern immer mit den Kindern, allerdings gibt es eine Ausnahme dieser Regel. Kurz bevor die Kinder in den Kindergarten wechseln, üben wir das ‘Loslassen’ und ‘Verabschieden’ mit Eltern und Kindern im Gruppenrahmen, allerdings nur bei Kindern, zu welchen wir eine gute Beziehung aufbauen konnten.

Da unser kleiner Freund bereits 3 Jahre alt war und der Wunsch der Mutter war, dass er irgendwann in den Kindergarten wechselt, dachten wir uns einen Plan aus. Wir erzählten der Mutter, dass wir es toll fänden für den Kindergarten ein wenig zu üben und es daher gut wäre, wenn sie ihn ein paar Tage lang nur bringen und abholen könnte. Die Mutter war damit einverstanden und so begannen wir den Montag mit einem fröhlichen Jungen, der sehr stolz darauf war, heute ‘alleine’ da zu sein.

Es fiel Benno leicht seine Mutter zu verabschieden und mit uns in ein schönes Spiel zu gehen. Aggressives Verhalten gab es an diesem Tag nur in einer Situation, aber mit klaren Worten und anknüpfendem Spiel konnten wir insgesamt einen guten Vormittag zusammen verbringen.

Uns fiel auf, dass er entspannter spielen konnte, er aber auch sehr viel Kontakt mit uns und weniger mit den Kindern suchte. Als die Mama nach zwei Stunden wiederkam, beachtete er sie kaum. Darüber wurde sie sichtlich traurig.

Er kam in dieser Woche viermal alleine und mit jedem Tag wurde es entspannter. Am vierten Tag konnten wir für eine Tasse Tee am Tisch sitzen bleiben und beobachten und sahen sehr viele Situationen, in denen er mit anderen Kindern eng und nah aneinander spielte, ohne aggressives Verhalten zu zeigen und ohne, dass wir beide die ganze Zeit neben ihm sitzen mussten.

In einem kleinen Singkreis am Ende setzten sich mehrere Kinder nebeneinander neben Benno und ein Mädchen gab ihm am Ende eine dicke Umarmung. Er strahlte über beide Ohren und ich dachte, dass das vielleicht die erste freiwillig gegebene Umarmung eines anderen Kindes an ihn war.

Wir verabredeten, der Mutter am vierten Tag eine Rückmeldung aus den vergangenen Tagen zu geben und dabei viel über unsere Beobachtungen zu reden. Wir berichteten ihr, wie toll Benno es in der Gruppensituation gemacht hatte und wie schön es war, ihn so entspannt zu erleben. Wir fokussierten uns darauf der Mutter zu sagen, dass er ein wunderbarer kleiner Junge ist. Wir erzählten ihr, dass wir gemerkt haben wie viel Unterschied unsere innere Haltung bewirkt hat und dass wir glauben, dass die innere Haltung das entscheidende Puzzleteil ist. Wir berichteten, dass er unglaublich gut damit umgehen kann, wenn man kurz und klar sagt, was man nicht will, um dann ohne Umschweife mit ihm weiterzuspielen.

Je mehr wir redeten, umso trauriger und wütender wurde die Mutter. Wir konnten sie so gut verstehen. Sie bat um etwas Abstand und sagte uns, es sei jetzt für sie genug. Das tat uns leid und wir waren auch etwas verunsichert, denn wir wollten ihr erzählen, welche innere Haltung gut für sie beide sein könnte. Leider war an diesem Tag ein Gespräch nicht mehr möglich und so fuhren wir nach Hause mit dem unguten Gefühl, dass wir sie überfordert hatten.

Am Ende des darauffolgenden Wochenendes bekamen wir beide eine SMS mit dem Inhalt, dass sie unsere Worte versucht hatte umzusetzen, und das Gefühl hat, sie hätte ein ganz neues verändertes Kind zuhause. Sie hätten ein ganz tolles harmonisches Wochenende zusammen verbracht und sie freue sich sehr darüber. Wir waren überaus erleichtert.

Über die nächsten Wochen konnten wir sehen, wie Mutter und Sohn zueinanderfanden und ihre Beziehung sich verbesserte. Es war, als hätten sie einfach noch einmal neu zusammen gestartet. Ich bin froh, dass uns Benno so viel über unsere Haltungen beigebracht hat und uns gelehrt hat, dass nicht Strafen und Grenzen das Thema einer gut funktionierenden Beziehung sind, sondern Vertrauen, Zuwendung, Liebe und viel Geduld.

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Photo by Daiga Ellaby on Unsplash

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