Die Mutter ist mit ihrem dreijährigen Sohn an der Hand unterwegs. Mit großen freudigen
Augen sieht er zu ihr hinauf und sagt:
"Mama, darf ich heute etwas Schönes bekommen?"
"Du weißt genau, dass du nicht jedes Mal, wenn wir einkaufen, etwas Schönes haben kannst
… Darüber haben wir auch schon gesprochen." (Ihre Stimme ist etwas übertrieben
kinderfreundlich, ohne ihm in die Augen zu sehen.)
Eine Weile gehen sie durch das Geschäft, und jedes Mal, wenn der Junge etwas Verlockendes
sieht, bleibt er stehen und fragt: "Darf ich das haben, Mama?" Seine Stimme und seine Mimik
sind stets optimistisch und voll Freude. Die Mutter variiert in ihren Antworten von "Nein, das
ist nichts für dich" bis "Mama hat doch Nein gesagt, mein Schatz." Ihre Bewegungen werden
langsam etwas fahrig, da sie seine Fragen stressen.
Zu guter Letzt gelangen sie zum Schokoladenregal. Der Junge nimmt eine Tafel Schokolade in
die Hand und hält sie zu seiner Mutter hoch mit allen Anzeichen einer beginnenden
Verzweiflung in der Stimme und im Gesicht.
"Mami, die hier. Darf ich die nicht bekommen?"
"Ich habe doch Nein gesagt. Warum kannst du das denn nicht verstehen?" (Ihre Stimme ist
jetzt völlig ohne Überzeugung und ihr Appell an ihn deutlich: Jetzt musst du endlich aufhören,
ansonsten hat deine Mutter bald genug und weiß nicht mehr, was sie tun soll.)
Er - verbissen und zielgerichtet: "Aber ich will die doch haben, Mama. Darf ich denn nicht?"
Diese Mutter befindet sich im wichtigsten Dilemma vieler moderner Eltern: Wie üben Eltern
ihre Führungsposition aus, ohne die Kinder zu kränken oder zu verletzen? Das Geschäft ist nur
einer von vielen Orten, an denen sich jeder Vater oder jede Mutter entscheiden muss, wer
hier das Sagen hat und welcher Führungsstil der Beste ist.
Die Antwort wäre folgende: Wenn der Sohn seine Mutter zum ersten Mal fragt, ob er heute
etwas bekommen darf, könnte sie antworten:
"Darüber will ich nochmal nachdenken. - - - Nein, du darfst nichts haben." (mit normaler
Stimme und freundlichem Blick)
"Ja, aber warum denn nicht?"
"Weil ich dir nichts geben möchte." (Beachte "ich"! Man sollte nicht von sich selbst in der
dritten Person sprechen, wenn man Autorität erlangen will.)
"Ja, aber wieso denn?"
"Das möchte ich dir nicht erklären." (Daraufhin muss sie sofort mit dem Einkauf beginnen und
nicht mit ihm in Blickkontakt bleiben in der Hoffnung, dass er wie durch ein Mirakel plötzlich
meint, dass sie klug und weise sei.)
Das ganze Geheimnis liegt im ersten »Nein« der Mutter, das sie wirklich ernst meinen sollte.
Wenn nicht, kann sie genauso gut von Anfang an »Ja« sagen und die Freude mit ihrem Sohn
teilen. Dadurch wird sie keine schlechtere Mutter. Sein Gedeihen und seine Entwicklung
hängen nicht von einem Ja oder Nein ab. Entscheidend ist vielmehr, weshalb er genau diese
Antwort bekommt. Eine aufrichtige Antwort ist immer eine gute Antwort. Eine Antwort, die
Konflikte umgehen soll, ist immer eine schlechte Antwort.“
»Wir müssen manchmal »Nein« sagen, um selbst intakt zu bleiben, um keine faulen
Kompromisse mit uns selbst einzugehen«
aus “Was Familien trägt” • Jesper Juul