Dialog ist unsere beste Chance – Nicole Wilhelm

Von Dr. Nicole Wilhelm familylab-Lehrtrainerin
Rezension

Ein wahrhaft außergewöhnliches Buch! „Die Gehorsamskultur ist zu Ende,
schreibt Nicole Wilhelm gleich am Anfang ihres Buches. Und obwohl sie
meint, in unserer Gesellschaft fände „gerade eine tiefgehende Veränderung statt:
Ein Paradigmenwechsel vom Gehorsam zum Verantwortungsbewusstsein, führt
sie uns an Dutzenden von Beispielen vor Augen, wie tief wir alle noch von der
überkommenen Gehorsamskultur geprägt sind. Mir gingen beim Lesen viele,
viele Male die Augen auf: Siehst du, so machst du es immer noch, obwohl du
das gar nicht willst. Was so schwierig ist: Die Gehorsamsforderung vollständig
loszulassen, und damit sind auch die unzähligen heimlichen Erwartungen
gemeint, die wir Kindern gegenüber entwickeln. (Ausschnitt der Rezension)
Quelle: Freinet-Pädagogik

Kein Mensch alleine weiß, wie gefährlich das Virus ist, wie der beste Weg
aussieht und wie wir gut dadurch kommen. Es erfordert ein feines
Gleichgewicht der verschiedenen Argumente und Handlungsempfehlungen.
Es beeindruckt mich immer wieder aufs Neue, wie viele kluge Denker es in
der Welt gibt, mit viel Wissen, Erfahrung und Kreativität: Virologen, Mediziner,
Bioethiker, Historiker, Soziologen, Statistiker, Informatiker….
Könnten wir dieses riesige Potential verbinden, vernetzen, sich miteinander
zum Entfalten zu bringen – dann wären wir sehr gut gewappnet, um dieser
Krise und weiteren Krisen gut zu begegnen.
Doch ich erlebe häufig, dass Wissenschaftler sich gegenseitig in die Pfanne
hauen, einander erklären, der eigene Standpunkt sei der einzig richtige und
wieso der andere eben völlig falsch läge - mal mehr, mal weniger freundlich.
Doch das Prinzip ist das gleiche: Jeder denkt alleine.
Hilfreicher wäre es aus meiner Sicht, durch eine dialogische Grundhaltung die
Vernetzung der verschiedenen Anschauungen und Ideen zu erreichen. Wenn
wir gemeinsam denken, ist 1+1 viel größer als 2. Ein Dialog ist viele mehr als
der Austausch bereits fertiger Gedanken – er führt zu völlig neuen Gedanken.
Für mich kommt dieser Gewinn in keiner anderen Geschichte besser zum
Ausdruck als in dieser:

Der Elefant

Es waren einmal fünf weise Gelehrte. Sie alle waren blind. Diese Gelehrten
wurden von ihrem König auf eine Reise geschickt und sollten herausfinden, was
ein Elefant ist. Und so machten sich die Blinden auf die Reise nach Indien. Dort
wurden sie von Helfern zu einem Elefanten geführt. Die fünf Gelehrten standen
nun um das Tier herum und versuchten, sich durch Ertasten ein Bild von dem
Elefanten zu machen.
Als sie zurück zu ihrem König kamen, sollten sie ihm nun über den Elefanten
berichten. Der erste Weise hatte am Kopf des Tieres gestanden und den Rüssel
des Elefanten betastet. Er sprach: "Ein Elefant ist wie ein langer Arm." Der zweite
Gelehrte hatte das Ohr des Elefanten ertastet und sprach: "Nein, ein Elefant ist
vielmehr wie ein großer Fächer." Der dritte Gelehrte sprach: "Aber nein, ein
Elefant ist wie eine dicke Säule." Er hatte ein Bein des Elefanten berührt. Der
vierte Weise sagte: "Also ich finde, ein Elefant ist wie eine kleine Strippe mit ein
paar Haaren am Ende", denn er hatte nur den Schwanz des Elefanten ertastet.
Und der fünfte Weise berichtete seinem König: " Also ich sage, ein Elefant ist wie
ein riesige Masse, mit Rundungen und ein paar Borsten darauf." Dieser Gelehrte
hatte den Rumpf des Tieres berührt.
Nach diesen widersprüchlichen Äußerungen fürchteten die Gelehrten den Zorn
des Königs, konnten sie sich doch nicht darauf einigen, was ein Elefant wirklich
ist. Doch der König lächelte weise: "Ich danke Euch, denn ich weiß nun, was ein
Elefant ist: Ein Elefant ist ein Tier mit einem Rüssel, der wie ein langer Arm ist, mit
Ohren, die wie Fächer sind, mit Beinen, die wie starke Säulen sind, mit einem
Schwanz, der einer kleinen Strippe mit ein paar Haaren daran gleicht und mit
einem Rumpf, der wie eine große Masse mit Rundungen und ein paar Borsten
ist." Die Gelehrten senkten ihren Kopf, nachdem sie erkannten, dass jeder von
ihnen nur einen Teil des Elefanten ertastet hatte und sie sich zu schnell damit
zufriedengegeben hatten.

Wenn wir einen Dialog als gemeinsame Suche nach neuer Erkenntnis
verstehen, uns als eine lernende Gemeinschaft verstehen, in der wir
voneinander und miteinander lernen, wenn wir verstehen, dass jeder eine
einzigartige und unverzichtbare Perspektive bietet – ansonsten würde vielleicht
der Rüssel fehlen – dann kommen wir weiter. Miteinander geht viel mehr, viel
mehr.
Um in der Gesellschaft zu einer solchen dialogischen Haltung zu gelangen,
brauchen wir Menschen, die es vormachen, die Dialog leben – nur so wird er
lebendig und kommt in die Welt. Auch hier lernen Kinder von Erwachsenen.
Es startet also bei jedem einzelnen, bei mir, bei dir.
Andere Meinungen zunächst einmal auszuhalten, nur einmal auszuhalten, dass
da noch eine andere Meinung ist. Das ist wie eine Dehnübung. Anfangs ist es
schwer, im Stehen mit den Händen den Boden zu berühren, doch mit ein
wenig Übung gelingt es immer leichter. So ist es auch bei der Dehnübung fürs
Gehirn, mit der Zeit gewöhnt es sich daran – und es bekommt auch Freude
daran, denn nun hat es mehr Flexibilität und mehr Einblick. Wenn ich den
auch den „Film“ der anderen schauen kann, ist das spannender als nur den
eigenen zu sehen.
Es startet mit dem Aushalten verschiedener Sichtweisen, und mit dem
Verzögern der eigenen Bewertung, die ja oft eine Abwertung der anderen
Standpunkte ist. Wir dürfen bewerten – doch es wäre gut, wir würden die
Situation, die Sachlage, die Handlungsoptionen erst dann für uns bewerten,
wenn wir genug über den Elefanten wissen, sodass wir uns ein umfassendes
Bild machen können.
Auch wenn es nicht so einfach ist, einen Dialog in geschriebenen Worten
abzubilden, dennoch hier ein Versuch, den Unterschied aufzuzeigen.

Ohne Dialog

Mutter, Vater und zwei Jugendliche sitzen am Frühstückstisch und unterhalten
sich. Dann steht der Vater auf und räumt die Spülmaschine aus.
Mutter: „Jetzt bleib doch mal sitzen. Das können wir doch gleich zusammen
machen.“
Vater: „Ich will es halt erledigt haben.“
Mutter: „Aber das Gescheppert stört doch jetzt nur. Ich will mich in Ruhe
unterhalten.“
Vater: „Kannst du doch.“
Mutter: „Nein, es ist zu laut.“
Vater: „Das dauert doch nur 2 Minuten.“

Mit Dialog

Mutter, Vater und zwei Jugendliche sitzen am Frühstückstisch und unterhalten
sich. Dann steht der Vater auf und räumt die Spülmaschine aus.
Mutter: „Komm, bleib bei uns sitzen, mit dir zusammen ist es schöner zu
frühstücken.“
Vater: „Ich will es halt erledigt haben.“
Mutter: „Also ich will dich gerne dabei haben und auch in Ruhe hier sitzen,
und du möchtest gerne fertig werden mit der Arbeit. Können wir es so
machen, dass wir es im Anschluss zu dritt machen und du schon frei hast?“
Vater: „Nein, ich will es machen, weil dann mehr in die Spülmaschine passt.“
Mutter: „Das stimmt, das schafft keiner so wie du. Was machen wir jetzt?“
Die Lösung ist nicht so wichtig. Wichtig ist die Bereitschaft, die Welt auch aus
der Perspektive des anderen zu sehen und ernst zu nehmen. Und dass niemand
verkehrt gemacht wird, wenn es verschiedene Wünsche und Anschauungen
gibt.
Wichtig ist aus meiner Sicht anzuerkennen, dass jeder es gut machen will,
hilfreich für die Gemeinschaft sein will und auch, dass jeder das Recht hat,
einen eigenen Standpunkt zu haben. Dieses Recht nehme ich ja auch ganz
selbstverständlich in Anspruch.
Das, was im Alltag etabliert wird, kann sich von da in der Welt etablieren.
Familien kommt meiner Meinung nach hier eine Schlüsselrolle zu: Die Werte,
die wir leben, nehmen Kinder automatisch in ihr Repertoire auf, und tragen
sie in die Welt hinaus.
Wenn es im Kleinen gelingt, wird es mit der Zeit auch im Großen gelingen.
Ich wünsche mir, dass mehr Dialog in unser Miteinander einzieht, jeden Tag
ein wenig mehr. Jeder kann dazu beitragen, das Land des Dialogs größer zu
machen: durch Interesse, Offenheit und Freundlichkeit – mit uns selbst und
anderen.

Miteinander leben – Für eine Familienkultur des Miteinanders
(14 • familylab-Schriftenreihe)
Autorin • Dr. Nicole Wilhelm

Artikel als PDF

Photo by Priscilla Du Preez on Unsplash

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