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Selbstbestimmt und unbeugsam: Was Eltern von autonomen Kindern wissen müssen

FOCUS-Interview von Focus-Online-Redakteurin Gina Louisa Metzler
mit Mathias Voelchert Gründer & Leiter familylab.de

Wenn man Eltern von kleinen Kindern fragt, ob ihr Kind einen starken
Willen hat, würden die meisten vermutlich mit Ja antworten. Nicht jedes
davon würde Familientherapeut Jesper Juul als autonomes Kind
bezeichnen. Was sie auszeichnet – und Eltern dann im Alltag hilft.
Viele Kinder verfügen heute über die Fähigkeit, ihre eigenen Interessen
durchzusetzen und können dabei sehr beharrlich sein – und auch wenn es
die Eltern oft an ihre Grenzen bringen mag, ist das ist überhaupt nichts
Schlechtes. Obwohl alle Kinder einen eigenen Willen haben und von Natur
aus nach Autonomie streben, gibt es einige Kinder, die sich in besonderem
Maße selbstbestimmt verhalten.
Der bekannte dänische Familientherapeut Jesper Juul konnte viel Erfahrung
mit diesen Kindern sammeln. Er bezeichnete sie als autonome Kinder – es
war ihm jedoch wichtig zu betonen, dass diese Kinder nicht in irgendeiner
Weise abgestempelt werden sollten, sie sollten kein Label bekommen,
keine Diagnose. Autonome Kinder sind nicht krank. Sie stehen nur
besonders stark zu ihren Wünschen und sind sehr gut in der Lage, ihre
eigenen Grenzen aufzuzeigen und zu wahren. Und das ist im Grunde eine
tolle Eigenschaft, die viele Erwachsene sich von autonomen Kindern
abschauen könnten. Trotzdem stellt das Leben mit einem autonomen Kind
für dessen Eltern nicht selten eine große Herausforderung dar. Woran
erkennt man sie also, die Kinder mit dem besonders starken Willen?

Autonome Kinder: Keine Andersbehandlung für die Willensstarken

"Ich bin der Meinung, dass alle Menschen einen Autonomie-Anteil in sich
tragen, der aber unterschiedlich stark ausgeprägt ist", sagt Mathias
Voelchert. Er ist Gründer und Leiter von familylab – der deutschen
Familienwerkstatt, die er in enger Zusammenarbeit mit Jesper Juul
aufgebaut hat. Auch an dem letzten Buch des Familientherapeuten vor
dessen Tod hat Voelchert mitgearbeitet. Er ist Co-Autor von „Dein
selbstbestimmtes Kind“ das 2020 im Kösel-Verlag erschienen ist.
"Ich widerstehe regelmäßig der Versuchung, ein Kind als autonom oder
nicht-autonom zu bezeichnen, weil ich die Andersbehandlung des
autonomen Kindes verhindern möchte", sagt Voelchert.
"Es ist ein Grundbestreben des Menschen, zum einen, dazugehören zu
dürfen – also Teil der Gruppe zu sein – und zum anderen, autonom zu sein
und so wachsen und sich entwickeln zu können, wie man eben ist." Manche
Menschen bestehen mehr als andere darauf, sich genauso entwickeln zu
dürfen, wie sie eben sind. Sie haben schon als Kinder eine Abneigung gegen
Fremdbestimmung. Sie lassen sich nicht gerne in eine Rolle stecken und
wollen sich nicht vorschreiben lassen, wie sie sich zu verhalten haben.
Wenn man diese Kinder nun bewertet, ihnen eine Diagnose verpasst, oder
auch nur die Bezeichnung "autonom", hat das aus Sicht von Mathias
Voelchert weder Vorteile für das Kind, noch für die Eltern.

Nicht die Kinder müssen sich verändern – sondern die Eltern

Denn das Problem, das dadurch entstehen kann, ist der Eindruck, das Kind
habe irgendetwas falsch gemacht; das Kind müsse sein Verhalten ändern
und die Eltern müssten möglicherweise Maßnahmen ergreifen, damit
das Kind sich besser anpasst. "Das Gegenteil ist der Fall", sagt Voelchert.
"Nicht die Kinder müssen sich verändern, sondern die Eltern müssen die
Anpassungsleistung erbringen. Sie müssen lernen, wie sie mit dem Kind
anders umgehen können."
Die Erwachsenen müssen sich an die Kinder anpassen? "Das wird häufig
falsch verstanden!", sagt Voelchert. "Was ich damit nicht meine ist, dass die
Eltern nach der Pfeife der Kinder tanzen müssen. Es geht vielmehr darum,
dass die Erwachsenen die Führung übernehmen, denn sie haben ja auch die
Macht und die Kraft, Entscheidungen zu treffen. Sie entscheiden, wo die
Familie lebt, welche Religion ausgeübt wird, was gegessen und welche
Kleidung getragen wird, usw. Und autonomen, also sehr selbstbestimmten
Kindern, geht das – ohne dass sie es selbst wissen – auf den Keks. Die
wollen auch entscheiden."
Buch-Tipp "Liebevolle elterliche Führung – das Praxisbuch" von Mathias
Voelchert
'Selber machen', hieße es von deren Seite daher oft schon mit zweieinhalb,
sagt Voelchert. "Und in einer Zeit, in der Kinder Gott sei Dank nicht länger
still geprügelt werden, insistieren die Kinder. Und sagen, das will ich aber
selber machen und selber können. Und dann machen sie es in ihrem
eigenen Tempo." Uns Erwachsenen fehle nur oft die Zeit und die Geduld,
um sie das machen zu lassen. "Und gerade dann, wenn wir im Stress sind,
wünschen wir uns ein Kind, das funktioniert", konstatiert Mathias
Voelchert.

Autonome Kinder: Auffälliges Verhalten ist immer ein Signal

Autonome Kinder sind keine Neuerscheinung, kein modernes Phänomen
und kein Produkt antiautoritärer Erziehung. Autonome Kinder hat es schon
immer gegeben. Es ist jedoch noch nicht lange her, dass insbesondere
Kinder, die aufbegehrten, Kinder, die für ihre Meinung einstanden und sich
gegen die Unterdrückung durch Erwachsene wehrten, durch Schläge oder
andere Strafen gefügig gemacht wurden.
Heute werden Kinder in unserer Gesellschaft zum Glück nur noch selten
geschlagen. So kann der Eindruck entstehen, dass es heute mehr Kinder
gibt, die "aus der Reihe tanzen" oder in irgendeiner Weise ein auffälliges
Verhalten zeigen. Und das ist gut, denn aus dem Verhalten eines Kindes
können seine Eltern eine Menge lernen: über sich selbst und über ihr
gemeinsames Leben als Familie.
Eltern sollten das Verhalten ihres Kindes also in jedem Fall ernst nehmen.
Denn: "Wenn Kinder auf den Putz hauen, signalisieren sie, dass es ihnen
nicht gut geht", erklärt Mathias Voelchert. "In neuneinhalb von zehn Fällen
zeigt ein Kind durch sein auffälliges Verhalten, dass etwas in der Familie
nicht rund läuft. Und darauf einzugehen, das ist eine Führungsaufgabe und
liegt in der Verantwortung der Eltern."

Autonome Kinder haben ein gutes Gespür für Grenzen

Kinder, die sich häufig sträuben, die scheinbar nicht kooperieren wollen,
tun es in Wahrheit doch – ihre Eltern verstehen nur häufig nicht, was die
Kinder ihnen mitzuteilen versuchen. Voelchert erklärt: "Autonome Kinder
brauchen vor allem den Kontakt zu den geliebten Erwachsenen. Sie
brauchen Kontakt zum Vater und zur Mutter. Oft ist das ein Zeichen von
einem starken Bedürfnis nach Zusammensein."
Da autonome Kinder ein sehr gutes Gespür für ihre eigenen Grenzen haben,
reagieren sie auch empfindlich, wenn sie mit Eltern zusammenleben, die
ihre Grenzen nicht wahren: Wenn Mutter und Vater ständig bis zum
Anschlag arbeiten, vielleicht noch eine unbefriedigende Paarbeziehung
haben, oder durch ihre Wohnsituation in Stress geraten, kann es zu
Konflikten mit dem Kind kommen. Das Kind signalisiert durch sein
Verhalten, dass es den Stress und das Ungleichgewicht in der Familie
spürt, denn es kann sich vermutlich noch nicht so differenziert ausdrücken
und seine Gefühle in Worte fassen. Die Herausforderung besteht nun für
die Eltern darin, das wahre Problem zu erkennen und zu lösen.
"Die Symptome sind der Feuermelder. Aber wenn der Feuermelder angeht,
wird keiner einfach den Alarm abschalten. Sondern jeder vernünftige
Mensch wird gucken, wo brennt es? Wo kommt der Rauch her? Man muss
den Brand finden. Und so ist es in Beziehungen auch", sagt Voelchert. "Es
hilft nichts, das Symptom zu bekämpfen. Man muss gucken, wo die Ursache
der Probleme liegt."

Beziehung statt Erziehung

Der Erziehungs-Experte sagt weiter: "Es geht wirklich darum, dass wir in
Beziehung mit dem Kind gehen und nicht versuchen, es in irgendeine
Richtung zu erziehen. Erziehung als solche ist sinnlos und erzeugt häufig das
Gegenteil von dem, was wir wollen. Man sollte in Beziehung gehen und
offen zeigen, wie es einem geht. Das Kind aber dabei nicht falsch machen
oder ihm die Verantwortung dafür übertragen, sondern Führung
übernehmen und klarstellen: Ich habe mit deinem Verhalten etwas zu tun."
Wenn die Eltern das erkannt haben, können sie ihr eigenes Verhalten
ändern. Mehr auf ihre eigenen Grenzen achten. Führung übernehmen und
die Kinder gleichwürdig behandeln. Das heißt nicht, dass Eltern jedes
Verhalten ihres Kindes einfach hinnehmen müssen. Es heißt auch nicht,
dass sie ihr Leben nur noch nach den Wünschen des Kindes ausrichten
sollten. Es heißt schlicht, dass sie ihrem Kind vermitteln sollten, dass sie
zwischen dem Verhalten des Kindes und seiner Person unterscheiden.
Das bedeutet: Eltern können ihrem Kind sagen: Mich stört dein Verhalten –
aber ich liebe dich als meinen Sohn oder als meine Tochter. "Eltern dürfen
ruhig sagen, deine Wutausbrüche und dein Türenknallen und dein
‚Scheiß Mama‘ usw., geht mir schon ganz schön auf den Wecker. Aber ich
verstehe, dass es ein Notruf ist. Und es ändert nichts daran, dass ich dich
liebe", erläutert Voelchert. Entscheidend sei, dass die Eltern zugeben, dass
sie Fehler gemacht hätten und dass sie jetzt etwas verändern wollten und
es auch tun. "Das ist liebevolle elterliche Führung." Und das ist es, was alle
Kinder – autonome Kinder aber ganz besonders – brauchen: keine
strengeren Regeln, sondern Eltern, die sie führen, dabei aber ihren Willen
anerkennen und respektieren.
Interview mit FOCUS-Online-Redakteurin Gina Louisa Metzler
Quelle FOCUS Online 1996-2021

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Foto von Annie Spratt auf Unsplash

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