Egal, wie problematisch wir das Verhalten von Kindern empfinden,
wir sollen nie aufhören, sie als Menschen gleicher Würde zu
behandeln.
Wenn wir verhaltensauffälligen Kindern unsere Aufmerksamkeit zuwenden,
dann konzentrieren wir uns in der Regel auf ihr unangepasstes Verhalten.
Wir nehmen diese Kinder nicht wahr als die, die sie sind, sondern
versuchen zu erklären, warum sie so geworden sind, wie sie sind. Wir
forschen nach Ursachen von Symptomen. Fast ein ganzes Jahrhundert lang
haben Psychologie und Pädagogik versucht, Verhalten zu klassifizieren,
nach Symptomen zu ordnen, Symptome und Störungen zu diagnostizieren.
Dies alles in der Annahme, dass wir bei exakter Diagnose eine Methode zur
Behandlung abweichenden Verhaltens entwickeln könnten. Auf diese Weise
behandeln wir nicht Menschen, sondern Symptome. Ich sage nicht, dass
diese Kinder keine Symptome haben oder kein symptomatisches Verhalten
zeigen. Natürlich sollen Erwachsene Kinder an unsozialem Verhalten
hindern. Ich rede nicht denjenigen das Wort, die sagen, „Kinder sind frei,
zu tun, was sie wollen“. Doch wir müssen Kindern auf eine ganz andere Art
und Weise begegnen. Mein Konzept ist, herauszufinden versuchen, wer das
Kind ist, nicht zu erklären, warum es sich so verhält. Das ist der einzige
Weg, zum Kind eine Beziehung herzustellen, die trägt.
Das defizitäre Menschenbild von Psychologie und Pädagogik wird
Kindern nicht gerecht. Ich gehe hingegen davon aus, dass das Kind
grundsätzlich von Geburt an sozial und emotional ebenso kompetent ist wie
ein Erwachsener. Diese Kompetenz, die sich entsprechend seiner Reife
äußert, muss ihm nicht erst durch Erziehung beigebracht werden.
Die traditionelle Erziehung benutzt überwiegend verbale Strategien und
ignoriert damit, dass Kinder Verhalten durch Imitation lernen. Kinder
müssen beobachten und experimentieren dürfen, dann fügen sie sich durch
Nachahmung in die Kultur ein. Auf diese Weise kooperieren Kinder.
Ein ständiger Strom von Ermahnungen und Erklärungen bewirkt, dass das
Kind sich dumm fühlt oder falsch. Auch wenn der Umgangston eher
freundlich und verständnisvoll ist, kommt dennoch die Botschaft rüber: „Du
bist nicht gut genug.“ Damit wird dem Selbstbild und der Selbstachtung des
Kindes großer Schaden zugefügt, und dagegen kann ein Kind sich nicht
wehren.
Gibt man das defizitäre Bild von Kindern auf, ergibt sich daraus auch
eine völlig andere Herangehensweise in der Praxis. Letztes Jahr beriet ich
beispielsweise ein Heim, das für Jugendliche vorgesehen war, bei denen
alle Maßnahmen versagt hatten. Die Arbeit dort war für die Pädagogen so
schwierig, dass sie sie nicht aushalten konnten. Die Jugendlichen waren
minderjährig und schulpflichtig. Die Hauptaktivität der Betreuer bestand
darin, die Jugendlichen zu motivieren. Schon bei der Begrüßung wurde
versucht, den Jugendlichen, die meist notorische Schulschwänzer waren,
die heimeigene Schule schmackhaft zu machen, doch nur eine Minderheit
besuchte regelmäßig die Schule.
Meine Arbeit zielte darauf, in dieser Institution den grundlegenden
Ansatz zu verändern. Die Betreuer sollten die Verantwortung für den
Schulbesuch an die Jugendlichen zurückgeben. In einem viertägigen
Workshop trainierten wir mit allen 13 Betreuern im Rollenspiel
ausschließlich die Begrüßungssituation. „Laut Gesetz müsst ihr zur Schule
gehen“, übten die Pädagogen zu sagen, „und wir haben hier zwei Lehrer,
die den Unterricht erteilen. Aus deinen Papieren wissen wir, dass zur Schule
zu gehen das Letzte ist, wozu du Lust hast, denn du hast damit eine Menge
schlechter Erfahrungen gemacht. Du kriegst drei Wochen Zeit, dich zu
orientieren und dir über den Schulbesuch klarzuwerden. Nach drei Wochen
sollte dein Entschluss gefasst sein.“ Die Jugendlichen fragten natürlich:
„Und was ist, wenn ich nicht zur Schule gehe? Fliege ich dann?“ Die
Antwort war: „Nein.“
Die Jugendlichen waren vollkommen verdattert. „Was?“ fragten sie, „Es
gibt keine Bestrafung oder Konsequenzen?“ – „Nein“, war die Antwort. „Du
entscheidest, ob du zur Schule gehst. Wenn du Unterstützung brauchst, um
zu einem Entschluss zu kommen, wenn du zum Beispiel mit einem
Erwachsenen reden möchtest, kannst du das jeder Zeit tun. Aber du
entscheidest, ob du zur Schule gehst oder nicht.“
Acht Monate später standen 13 der 16 Jugendlichen jeden Morgen auf
und gingen zur Schule. Die Pädagogen erkannten sie, dass es sehr viele
Situationen gab, in denen sie versucht hatten, die Jugendlichen zu
motivieren, und dass sie einfach damit aufhören konnten. Sie merkten,
dass sie auf diese Weise eine Menge Zeit, Kraft und Nerven sparten und
waren seither viel zufriedener mit ihrer Arbeit.
Das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen sollte immer von
Gleichwürdigkeit bestimmt sein. Gleiche Würde heißt, jede Person in ihrer
Verschiedenartigkeit anzuerkennen. Den Begriff „Gleichberechtigung“
hingegen finde ich irreführend zur Beschreibung der Eltern-Kind-Beziehung,
denn gleiches Recht legt gleiche Pflichten nahe, verbunden mit gleicher
Verantwortung – und die kann es in der Eltern-Kind-Beziehung nicht geben.
Der Erwachsene ist immer verantwortlich für die Qualität seiner Beziehung
zum Kind. Die Praxis der gleichen Würde heißt nicht, dass Kinder alles
entscheiden müssen. Demokratie kann es innerhalb der Familie nicht
geben, denn Kinder sind vollständig von den Eltern abhängig. Wir können
unsere Kinder auf die Demokratie vorbereiten, aber die Eltern-Kind-Beziehung kann nicht demokratisch sein.
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