freies-selbstbewusstes-kind-am-meer

Autonome, selbstbestimmte Kinder: Sie wissen genau, was sie wollen

Interview von Andrea Zschocher mit Mathias Voelchert, Gründer & Leiter von familylab.de

 Autonome Kinder sind nicht etwa ein neues Phänomen, es gab sie schon immer. Aber inzwischen können Kinder, die sehr viel Wert auf ihre Selbstbestimmung legen, offener ihre Wünsche äußern. Jesper Juul hatte viel Erfahrung mit autonomen Kindern gesammelt. Postum erschien im Januar das Buch “Dein selbstbestimmtes Kind”. Wir haben mit seinem Co-Autor Mathias Voelchert über autonome Kinder, Schulalltag und Erziehung gesprochen.

 Interview über autonome Kinder

Wir haben uns mit seinem Co-Autor, Mathias Voelchert unterhalten. Es sollte natürlich um das Buch gehen, um autonome Kinder an sich, über autonome Kinder in der Schule und den Umgang mit Lehrer*innen. Aber daraus entstand ein ganz wunderbares Gespräch über Erziehung, über Ansprüche von Eltern an sich und an ihre Kinder. Es geht im Interview um Langeweile, die wichtig ist, um Schimpfen, das menschlich ist, und auch um die Macht der Verantwortung. Dieses Interview ist nicht nur für Eltern selbstbestimmter Kinder gedacht, denn sicher werden sich alle Eltern hier wiederfinden.

Autonome Kinder

Alle Eltern verzweifeln wohl hin und wieder am Willen ihrer Kinder. Während man selbst nach links laufen möchte, zieht das Kind nach rechts. Und dann stehen wir da und müssen einen Kompromiss finden. Es gibt Kinder, denen gelingt das leicht. Und andere tun sich damit sehr schwer, weil sie eine ganz klare Vorstellung davon haben, wohin sie gehen möchten. Diese autonomen Kinder brauchen nicht mehr oder strengere Regeln, im Gegenteil, sie brauchen Eltern, die sie führen, ihren Willen aber anerkennen.

 Stellen Sie sich doch bitte kurz vor!

Ich bin Mathias Voelchert. Ich habe im Jahr 2006 familylab in Deutschland gegründet und leite diese Organisation seitdem. Damals noch in enger Zusammenarbeit mit Jesper Juul. Wir haben sehr viele Vorträge und Seminare veranstaltet. 2012 ist er leider schwer erkrankt und hat sich aus dem öffentlichen Leben weitestgehend zurückgezogen. Wir haben 12 Seminare zusammengehalten, jetzt sind wir bei Nummer 25. dieses startet im Juni. Wir bieten Familienberatung und Seminare für Fachleute an, die eine fachliche Grundlage haben, die aber gerne in Form von Gleichwürdigkeit mit sich selbst, mit Familien und mit deren Kindern arbeiten wollen.

Wie war die Zusammenarbeit für das Buch „Dein selbstbestimmtes Kind“ mit Jesper Juul?

Ich habe die Einleitung und das Nachwort geschrieben. Wir haben an dem Buch 4 1/2 Jahre zusammengearbeitet. Ich habe die Frage gesammelt und bin dann immer wieder zum ihm gefahren. Mal konnte er zwei oder drei Fragen beantworten, mal eine. Ich habe die Antworten gesammelt, dann haben wir die Antworten im Mai 2019 fertig gestellt, damit waren 33 Fragen von Eltern beantwortet. Jesper Juul hat einen grundlegenden Text dazugeschrieben. Und dann ist er leider im Juli verstorben.

Was zeichnet ein autonomes Kind aus?

Das weiß, was es will.

Aber wissen das nicht alle Kinder?

Ja, sehr richtig. Das ist eine gute Frage. Das wissen alle Kinder mehr oder weniger. Die einen bestehen unbedingt darauf, dass sie es so haben können, wie sie es wollen. Andere Kinder sind flexibler im Durchsetzen ihrer Wünsche. Manche Kinder wissen genau, was sie wollen, aber das macht sie noch nicht zu einem autonomen Kind.
Autonome Kinder stellen die Zusammenarbeit ein, wenn es nicht so funktioniert wie sie es wollen. Das Problem ist auch, dass Kinder nicht immer genau ausdrücken können, wie sie es haben wollen. Weil sie z.B. noch zu klein sind. Sie können nur zeigen, wie sie es nicht wollen. Das führt zu großem Frust, bei allen. Ältere Kinder wissen was sie haben wollen, aber oft nicht was sie wirklich brauchen. Dafür sind dann die Erwachsenen zuständig, zu entscheiden, was das Kind braucht.

Heißt das, die einen sind zur Zusammenarbeit fähig sind und die anderen eher nicht?

Alle Kinder sind selbstbestimmt und alle Kinder sind autonom, aber in sehr unterschiedlichen Maßen. Die einen können sagen: „Ok, das kann ich jetzt nicht haben, dann bekomme ich es eben morgen oder übermorgen.“
Und die anderen, die autonomen Kinder, bestehen total darauf und kämpfen wie um ihr Leben, dass das jetzt passiert, was sie sooo dringend brauchen.

Wir müssen unbedingt aufpassen, dieses autonome Kind nicht auch wieder abzustempeln. Es ist keine neue Definition, kein neues Label, diese Kinder sind nicht krank! Sie stehen nur besonders stark zu ihren Wünschen.
Es gibt nicht ADHS-Kinder und autonome Kinder usw. Wir haben das im Buch auch so klar formuliert, dass das keine neue Kategorie ist. Wir alle tragen ein Autonomiebestreben in uns, jeder / jede in unterschiedlichem Maße. Wir haben alle ein Streben nach Selbstbestimmung. Das wird nur vielen Kindern ausgetrieben. Immer noch sind wir der heimlichen Meinung, dass ein gut erzogenes Kind nicht auffällt. Das ist Unterdrückung – nicht Erziehung. Gute Erziehung ist Begleitung und der Wille hinzuschauen: Was für ein Kind habe ich da bekommen, was braucht es von mir?

Hochbegabt, autonom, hochsensibel, gefühlsstark – ist das nicht irgendwie nur etwas, dass sich Eltern überlegen, um ihrem Kind den Status des Besonderen zu geben? Sind Kinder nicht einfach Kinder?

Das stimmt ja. Kinder sind erstmal Kinder. Und dazu kommt: Alle Kinder sind besonders. Alle Kinder sind Spezialanfertigungen, die es nur einmal gibt. Auch bei Zwillingen gibt es Unterschiede. Es gibt da natürliche viele Gemeinsamkeiten, aber auch hier gibt es unterschiedliche Charakterzüge. Eltern haben die größten Schwierigkeiten mit dem Idealbild, das sie von ihren Kindern haben. Viele Kinder wehren sich dagegen, irgendwie gemacht zu werden, irgendwie geformt zu werden, irgendwie sein zu sollen, selbstbestimmte Kinder besonders.

Was Eltern machen können und sollten, ist sich das eigene Kind anzuschauen und es so zu nehmen, wie dieses Kind ist. Kein Projekt daraus machen, wie es sein soll. Die wesentliche Elternfrage lautet deshalb: Denke ich mein Kind ist das Produkt meiner Erziehung, oder denke ich mein Kind entwickelt sich im Wesentlichen selber? Welches Menschenbild habe ich?

Gibt es einen Tipp, wie Eltern von selbstbestimmten Schulkindern verfahren sollten?

Mein Tipp ist wieder und immer wieder: Entspannt euch! Schaut nicht auf das Label, was an der Schule klebt. Wir machen seit 10 Jahren Lehrerweiterbildung, „Das wird Schule machen“, heißt die. Daher weiß ich, es kommt nur auf die einzelnen Lehrer*innen an, nicht ob es staatliche oder private Schulen sind. Wenn ich als Kind eine Lehrerin habe, mit der ich gut kann, läuft das Ding. Die kleinen Kinder verlieben sich in ihre Lehrer, die machen ihre Hausaufgaben dann für die Lehrer*innen.

Das Problem entsteht dann, wenn Kind und Lehrer*in sich nicht mögen. Das gibt es in allen möglichen Schulformen, wie auch im späteren Leben.
Und darauf hat Schule noch keine Antwort gefunden. Es wird immer noch davon ausgegangen: Ich weiß etwas, was du nicht weißt und die Kinder müssen lernen, was die Lehrerin sagt. Das kann ich als Kind aber nur dann, wenn ich den Lehrer akzeptiere, und bereit bin von ihm zu lernen. Mein Sohn hat mal zu mir gesagt: „Papa von dem Lehrer kann ich nicht lernen, der mag keine Kinder“.  Und genauso anders herum: Wenn Lehrer*innen akzeptieren, dass es in einer Klasse auch Schüler*innen gibt, mit denen ich nicht kann, wenn das sein darf, geht es besser. Leider ist das immer noch ein Tabu. Es wird so getan, als ob die pädagogische Kompetenz das Ganze aus der Welt schaffen könnte. Die Erfahrung zeigt, das kann sie nicht.

Und wie können Lehrer*innen damit umgehen?

Das muss man auf den Tisch legen, als Tatsache. Ich muss sagen: Mit diesem Kind kann ich nicht so gut. So ist das eben, in jeder Firma ist es doch auch so. Irgendeine Nase passt einem nicht. Antipathie gibt es immer zwischen uns, wie auch Sympathien, so sind Menschen. Das muss man ansprechen, das ist Führungsverhalten von Lehrer*innen. Das sollten Lehrer*innen ansprechen und sagen: „Wir sollten schauen, dass wir miteinander zurechtkommen und ich weiß, das ist nicht einfach, aber ich will mich sehr darum bemühen – bitte versuche du es auch“. Wenn das ausgesprochen ist, wird auch klar: Wir können damit umgehen und wir brauchen keine Freunde zu werden, und können trotzdem Respekt voreinander zeigen. Wenn das ein offenes Geheimnis bleibt und die Erwachsenen nicht die Verantwortung für die Beziehung übernehmen, dann ist es schwierig für‘s Kind, weil es sich dann schnell verunsichert, vielleicht sogar falsch fühlt. In jedem Fall müssen wir als Erwachsene die Verantwortung übernehmen für das was gelungen ist und auch dafür was daneben ging.

Sind wir da schon? Sind Lehrer*innen so einsichtig und offen?

Ich habe die Erfahrung gemacht: Ja! Die Lehrer*innen kommen alle freiwillig zu uns in unsere Weiterbildungen. Sie sind alle davon überzeugt, dass sie die Qualität der Beziehungen verantworten können. Natürlich gibt es 1/3, die man nie erreicht, in einem System, das von Menschen fordert ihre Seele gegen Verbeamtung/Sicherheit zu verkaufen und Dienst nach Vorschrift zu machen, ist das so. Damit müssen wir umgehen. Aber die anderen 2/3 interessieren sich wirklich für Kinder und sind aus ganzem Herzen Lehrer*in geworden. Das ist doch in anderen Berufsgruppen genauso. Überall gibt es Leute, die ihre Jobs wegen Geld machen und nicht aus Überzeugung. Es gibt überall Menschen, die woanders besser aufgehoben wären, aber diesen Schritt aus den verschiedensten Gründen nicht gehen.

Wie können Eltern ihre Kinder stärken?

Das ist ja ein Klassiker, diese Frage. Die wichtige Antwort: Was ist denn das Beste für mein Kind? Konfliktfreiheit? Immer tun was mir gesagt wird?  Gehorsam sein mit den Lehrer*innen? Nein, Schule ist ein Abbild der Gesellschaft. Ich kann in der Schule lernen, wie ich später mit Mitarbeiter*innen und Chefs zurechtkomme, auch mit denen die mir nicht sympathisch sind. Ich kann ja nicht jedes Mal die Schule oder den Job wechseln, wenn mir was nicht passt. Es hat sich irgendwie eingebürgert in einer Art Lehrerbashingstimmung auf einzelne Lehrer einzuklopfen und die blöd darzustellen. Auch in TV-Serien werden die oft blöd dargestellt. Dabei sind Erzieher*innen und Lehrer*innen die wichtigsten Erwachsenen nach den Eltern, weil sie ganz nah an den Kindern dran sind. Deswegen müssen wir lernen sie alle zu stärken, und mit Respekt zu behandeln. Je besser wir unsere Erzieher*innen und Lehrer*innen behandeln/bezahlen, umso besser wird es unseren Kindern gehen. So stärken wir unsere Kinder!

Wir haben auch eine Anspruchshaltung entwickelt. Hier ist mein Kind und ich will, dass es optimal betreut wird, ich will mich nicht immer kümmern, ich brauche auch etwas Entspannung. Das ist total ok, ich will das nicht kritisieren. Aber die, die für unsere Kinder da sind, die behandeln wir schlecht. Zu wenige Fachkräfte pro Kindergruppe, wir brauchen ‚Springer‘ die bei Krankheit/Urlaub eine qualifizierte Vertretung leisten können und die die Kinder kennen. Es ist unverantwortlich in einer KiTa eine Fachkraft mit 20 Kindern allein zu lassen. In Schulen ist es ein Unding unter welchen hygienischen, baulichen, aber auch personellen Bedingungen Lehrer*innen und Kinder arbeiten müssen, da fragt man sich wo ist die Wertschätzung für diese jungen Menschen die unsere Zukunft bedeuten. Aktuell fehlen 55.000 Lehrer, und es stimmt, die Kinder die heute in die Schule gehen, waren vor 6 Jahren schon geboren, wenn die Ausbildung 4 Jahre dauert, haben die Verantwortlichen geschlafen. Oder Lehrer, ohne Festanstellung, in den Ferien dazu zu zwingen sich arbeitslos zu melden, was ist das für ein Umgang mit den zweitwichtigsten Erwachsenen für Kinder, nach den Eltern? Dringender Handlungsbedarf!

Sind Tipps, die darauf abzielen, dass das Kind sich selbst eine Lösung überlegt nicht total anstrengend? Überfordert das die Kinder nicht?

Ja, es ist anstrengend. Und nein, es überfordert die Kinder nicht. Ja, es ist anstrengend, wenn die Eltern das noch nie gemacht haben. Dann ist es für die Eltern total anstrengend. Die Kinder sagen: Mir ist langweilig, Papa, Mama, hol mal das Bespaßungsprogramm raus, ich brauche jetzt ein bisschen Show. Das kann sich das Kind ja wünschen. Aber wir entscheiden als Eltern, ob wir mitspielen wollen. Wenn wir mitspielen, sollten wir das mit Haut und Haar tun, nicht nebenbei aufs Handy schauen. Die Frage an uns Eltern lautet: Beschädige ich mein Kind, oder frustriere ich es nur, wenn ich ihm sage: Ich habe jetzt keine Lust mit dir zu spielen?
Langeweile gehört zum Leben dazu. Beschädige ich mein Kind mit dieser Absage? Nein, ich frustriere es. Ist mein Kind erfreut über diese Absage? Nein überhaupt nicht. Das Kind wird wütend sein, schimpfen, alles das was es von uns gelernt hat tun, um seine Frustration loszuwerden, zu verarbeiten. Das ist ok. Wichtig ist, dass wir als Eltern diese Absage mit einem guten Gewissen machen, in der Gewissheit: Ich schade meinem Kind nicht, sondern ich brauche grade eine Auszeit.

Meine Kinder haben ihre eigene Langeweile immer wieder gut überwunden, indem ihnen die tollsten Ideen kamen, nachdem sie sich dieser Langeweile (unfreiwillig) hingegeben haben. Wenn wir Eltern mit Ideen kommen und Dinge vorschlagen, dann ist das Kind immer am Drücker und sagt: „Nee, hab ich keine Lust zu. Nee, mag ich nicht“. Dann kommen wir in eine Spirale der Bespaßung. Dann kauf ich dem Kind morgen einen Porsche, übermorgen einen Helikopter und dann fliegen wir zum Mond und so weiter. Wahnsinn!
Wenn wir dafür sorgen müssen, dass unsere Kinder gute Laune haben, dann ist die Karre schon an die Wand gefahren. Wer einen ganz normalen Kontakt zu seinen Kindern hat, braucht keine Bespaßungsmaschinerie in Gang zu halten. Auch nicht, wenn Sie getrennt sind und ihr Kind nur am Wochenende sehen.

Das heißt, Eltern müssen lernen den Frust ihrer Kinder auszuhalten?

Genau so! Das ist keine Vernachlässigung, wenn ich mein Kind frustriere. Es darf niemals der Fall sein, dass ich mein Kind beschädige. Eltern wissen genau, was der Unterschied ist.

Das Leben hält stündlich Frustrationen für uns bereit. Das, was wir gerade erleben (Corona), hat ganz hohes Frustrationspotential und wir müssen lernen, das nicht an unseren Partner*innen und unseren Kindern auszulassen, sondern zu sagen: Das ist blöd. Das frustriert mich. Ja, es ist blöd, dass ich ganz viel umplanen muss. Da kann ich frustriert sein, Sport machen und etwas mit meiner Frustration tun, denn es ist meine Frustration, die anderen sind nicht daran schuld, sondern nur beteiligt. Deshalb kann nur ich meine Frustration ‚behandeln‘ oder reparieren. Es wird nicht besser, indem ich mein Kind zu irgend etwas zwinge, oder beschuldige.

Eltern sind frustriert, das muss man anerkennen. Und dann sagen natürlich Eltern auch: Was soll das, mein Kind soll parieren?

Wollen nicht alle Eltern brave Kinder?

Natürlich! Eltern wollen Kinder, die mitmachen und die nicht zu Fremden ins Auto steigen. Eltern wollen am liebsten Kinder die kooperieren. Aber gleichzeitig wollen sie selbstständige Demokraten, die sich eine Meinung bilden können, die schon in der Schule verschiedene Perspektiven einnehmen lernen, die eine kompetente Berufswahl treffen können, die zu ihrem Freund nein sagen, wenn sie noch keinen Sex wollen, die zu Drogen nein sagen können. Solche Kinder bekomme ich nicht, wenn ich nur brave Kinder will, die parieren. Solche Kinder (die gut mitmachen können und gut für sich sorgen können) entwickeln sich, wenn sie von ihren Eltern vorgelebt bekommen, wie diese immer wieder zwischen den beiden gegenüberliegenden Polen hin und her wechseln: Einerseits meine Kooperation (mitmachen) und andererseits meine Integrität (gut für sich sorgen).

Gerade meine Generation, ich bin 1953 geboren, tut sich damit schwer, weil es in der Großelterngeneration oft heißt: Ja, bei uns gab es das nicht. Da gab es keinen Widerspruch. Ha, da kann ich doch nur lachen. Natürlich gab es auch damals Widerspruch der Kinder, aber der wurde niedergebügelt bei den allermeisten. Mit Strafen und Sanktionen wurden die Kinder so drangsaliert, dass irgendwann ihr Widerspruch aufgehört hat. Da waren sie dann – die braven Kinder, die parieren, doch um welchen Preis?!

Finden Sie, Kinder haben es heute besser?

9 von 10 Kinder haben es heute sehr viel besser. Das ist der Verdienst der heutigen Eltern! Doch Eltern machen es sich meiner Meinung nach viel zu schwer. Jetzt pendelt das in die andere Richtung. Eltern versuchen es auf keinen Fall mehr so zu machen wie ihre eigenen Eltern. Sie haben das gesunde Mittelmaß nicht immer im Gepäck. Es gibt eine Tendenz zu überfürsorglichen Eltern.

Wie kommt man da hin, zum gesunden Mittelmaß?

Trial and error. Und „Dein selbstbestimmtes Kind“ lesen.
Die meisten Eltern wissen sehr genau, was sie tun sollten, wenn sie in sich hineinhören. Aber sie denken darüber nach, was die anderen sagen könnten. Dann kommen sie total ins Schleudern, weil sie die unterschiedlichen Stimmen in sich hören. Sie wollen auf jeden Fall was anderes machen als das, was ihnen selbst passiert ist, doch viele trauen sich noch nicht.

In dieser Situation haben Eltern einen hohen Druck. Und wissen dann vielleicht gar nicht mehr, was sie machen sollen.

Ich weiß nur, für mich wäre es damals wunderbar gewesen, wenn es ein Ding wie familylab und so kompetente Bücher über Erziehung und Beziehung gegeben hätte. Millionen von Eltern lesen die Bücher, und, dass sie verwirrt sind ist ein wunderbares Phänomen. Wenn den Eltern alles klar wäre, dann gäbe es die Bücher nicht. Der erste Schritt in der Transformation ist doch die Verwirrung. Die Gehorsamskultur angelt einen ja damit, dass sobald ich das mache, was die eigenen Eltern damals machten, weiß ich immer, dass ich richtig bin, wenn ich das nachmache, gehorche, bin ich auf der ‚richtigen‘ Seite.
Gott sei Dank wollen viel Eltern das heute nicht mehr. Die Gesellschaft ändert sich Stück für Stück, langsam, über 20, 30, 50 Jahre. Die Eltern die jetzt Kinder haben, finden Literatur und Seminare, finden einen Grundkonsens vor: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Aber, das will ich nicht leugnen, es gibt auch immer noch genug Eltern, die auf Druck und Disziplinierung setzen. Das ist ja noch mindestens die Hälfte der Eltern, die das für richtig halten.

Wer entscheidet denn in den Familien? Die Kinder, oder die Eltern? Hat sich da was geändert?

Wir können hier einen Paradigmenwechsel beobachten. Das bedeutet: Eltern müssen die Führung übernehmen, aber es ist wichtig, die Kinder zu hören. Ich würde meine Kinder nicht entscheiden lassen wohin wir in den Urlaub fahren, aber ich würde mir anhören, was die Kinder dazu zu sagen haben. Dann bespreche ich das mit meiner Frau und wir teilen den Kindern unsere Entscheidung mit. Natürlich kann das zu Frustration führen, gerade wenn man mehrere Kinder hat, kann man es nicht allen recht machen. So ist es. Die Eltern müssen die Verantwortung für ihre Entscheidung übernehmen. Denn das können Kinder nicht. Ich will von Eltern nicht hören: Jetzt sind wir hier an den Strand gegangen, das wollten wir nicht, wir haben das für euch gemacht und jetzt haben wir hier diese Hitze und das Meer ist uns zu warm. Diese Verantwortung den Kindern überzustülpen geht gar nicht. Kinder können die Tragweite ihrer Entscheidungen nicht absehen, deshalb entscheiden letztlich die Eltern, und die Eltern leben auch mit der Tatsache, dass sie es nicht allen recht machen können. Davor haben die Kinder ihre Meinung gesagt und werden lernen, dass man nicht immer bekommt was man will.

Wenn man Ihr Buch so liest, dann kann das schon auch dafür sorgen, dass man sich als Elternteil total unzulänglich fühlt. Was sagen Sie all den Eltern, die sich so fühlen?

Sie müssen, wenn sie das Buch gelesen haben, gar nichts. Sie müssen überhaupt nichts tun. Sie müssen im Gegenteil ganz viel lassen. Es muss nichts auswendig gelernt werden. Lassen Sie Ihr Kind in Ruhe. Das ist das Beste, was sie tun können. Das heißt nicht, dass sie ihr Kind vernachlässigen sollen. Geben Sie sich und Ihrem Kind eine Verschnaufpause.

Die meisten Eltern, die zu uns kommen, machen im Gegenteil viel zu viel. Da ist viel zu viel Programm für die Kinder. Nach der Schule schnell essen, dann zum Sport, dann gehen wir zum Geigenunterricht und dann noch mehr Programm. Wir Eltern machen es uns in 8 von 10 Fällen viel zu schwer.

Worauf kommt es im Leben mit Kindern Ihrer Meinung nach am meisten an?

Darauf, das Leben selbst zu genießen und das Leben mit den Kindern zu genießen. Nur so gut, wie es mir als Vater, Mutter geht, so gut geht es meinen Kindern. Wenn ich immer im Druck- und Überladungsmodus bin und mein Kind die ganze Zeit anblaffe, wenn ich es eigentlich am liebsten zum Mond schießen würde, dann spürt das das Kind. Natürlich spürt es das. Und dann muss ich dafür sorgen, dass ich mich entspanne. In der aktuellen Situation ist es eine Herausforderung, die es in dieser Form noch nie gegeben hat. Da muss man den Ball flach halten. Im Hurrikan einen Drachen steigen lasen ist nicht besonders sinnvoll.
Aber wenn alles vorbei ist, dann könnte man anfangen und sich bei seinen Kindern entschuldigen. Dann kann man zum Kind sagen: „Hör mal, ich habe ein paar blöden Sachen gesagt und getan, das werde ich ändern. Erinnere mich daran, dass ich das nicht mehr machen will.“ In solchen Situationen suchen Sie sich Zeugen und Verbündete, Zeugen (die Partnerin, die anderen Kinder, gute Freunde) indem sie z.B. im Familienkreis sagen: „Ich habe meinem Sohn eine Watschn gegeben, das wollte ich nie, und jetzt habe ich es doch getan. Das ist absolut nicht ok. Ich sage das hier und jetzt, damit es nicht unter den Teppich gekehrt wird. Ich will damit sofort aufhören. Bitte entschuldige lieber …“
Unsere Kinder spüren, wenn wir es ernst meinen. Und wenn sie einbezogen werden, wenn sie „Halt!“ rufen dürfen, dann fühlen sie sich gesehen.
Wir sind oft im Notfallmodus, da gerät man immer wieder rein, das ist mit Kindern so. Aber dazwischen muss man schauen, dass man sich Auszeiten schafft und die innere Batterie auflädt. Gelassenheit ist das Zauberwort.

Nicht zu schimpfen ist doch das Gebot der Stunde. Was sagen Sie dazu?

Das sind schöne Wünsche. Es ist ein Trend. Im Moment ist „nicht schimpfen“ im Trend. Und wer es mit den Büchern schafft weniger zu schimpfen – wunderbar!

Jeder, der Kinder hat weiß, dass einem mal die Hutschnur platzt. Man darf nicht handgreiflich werden und auch nicht unfair sein. Und man muss sich entschuldigen können. Wenn das Kind sich verkriechen muss, weil es dem Druck der Eltern nicht standhält, dann müssen die Eltern was tun, um das zu ändern. Nicht das Kind!
Die Eltern müssen die Anpassungsleistung bringen, nicht das Kind. Die Eltern sind für ihre eigenen Gefühle verantwortlich.
Die alte Gehorsamskultur hängt uns noch im Pelz. „Wer zahlt, schafft an. Und so lange du deine Füße unter meinen Tisch streckst…“, so hieß es früher. Verhängnisvoll und der Gedanke ist immer noch da: Ich besitze mein Kind (meine Frau?!) und weil ich sie besitze, müssen sie das tun, was ich will. Vor allem muss das Kind still sein am Tisch, damit der Patriarch seine Spielchen spielen kann. Das ändert sich seit 20/30 Jahren bei 80 % der Familien. Und das ist wunderbar!

 

Herr Voelchert, vielen Dank für dieses tolle Interview!
Mein Fazit: Ich fand das Interview mit Mathias Voelchert sehr bereichernd. Es fand während des Corona-Lockdowns im Homeoffice statt, im Hintergrund riefen meine drei Kinder ständig irgendwas, stritten sich, der Jüngste telefonierte sogar mit. Herr Voelchert nahm das alles ganz gelassen hin, ließ sich nicht beirren und erzählte einige Ankedoten von seinen bereits erwachsenen Kindern.

Interview von Andrea Zschocher

Artikel als PDF

Scroll to top