Der Familienberater arbeitet mit einer Familie mit einem ständig schreienden Kind.
Von Mathias Voelchert
Schon bei der Terminvereinbarung ist im Hintergrund das Kind laut zu hören. „Wir halten es nicht mehr aus, unsere Tochter schreit seit Wochen, wir sind am Ende, können wir schnell kommen.“ Die Familie kommt noch am nächsten Nachmittag in die Beratung. Schon im Treppenhaus ist das Kind lautstark zu vernehmen. Die Tür öffnet sich, ein kurzer Blickwechsel, Winterjacken ausziehen, das Mädchen (3) beginnt scheinbar grundlos zu schreien. Der Berater redet mit den Eltern, alle setzen sich. Das 8-monatige Baby schläft seelenruhig im Maxi-Cosi, während das Mädchen vom Schoss der Mutter zum Schoss des Vaters wechselt, dabei schreiend. Das Schreien des Mädchens ist nicht leidend, es ist warnend: Ich könnte noch viel mehr, wenn nötig, dieses Schreien ist beiläufig und laut und kann jederzeit hochfahren, sirenenartig. Eine Sirene wofür? denkt der Berater. Der Berater spricht mit den Eltern zuerst mit lauter Stimme, das Schreien des Mädchens wird lauter, als die Erwachsenen leiser sprechen, wird auch das Kind leiser.
Nach 30 Minuten lauten Schreiens und dem Versuch miteinander zu sprechen, macht sich Hilflosigkeit bei dem Berater breit. Die Eltern sagen: „Sehen Sie, das halten wir seit einem halben Jahr aus”. Dem Berater gehen Idee durch den
Kopf, dass es mit dem Neugeborenen zu tun hat, sicherlich, aber hilft das jetzt weiter? Da kommt eine Idee. Der Berater spricht das erste Mal das Kind direkt an mit den Worten: “Du hast wunderbare Eltern, sie geben sich sehr, sehr viel Mühe, und sie haben sich beide lieb, das sehe ich. Deine Eltern tun ihr Bestes, sie sind für deinen kleinen Bruder da, sie sind für dich – seitdem du auf der Welt bist – da, sie haben dich sehr lieb. Deine Eltern waren schon mit dir in 3 Beratungsstellen, und sind jetzt hier. Alle versuchen eine gute Lösung für deine Eltern und für dich zu finden. Aber das Wichtigste ist, du hast tolle Eltern, die dich sehr lieb‘ haben.” Diesen Worten hört das Kind ruhig zu. Das Mädchen steht am Tischeck und schaut verträumt, als der Berater zum schlafenden Baby sieht, bemerkt er eine gelbliche Pfütze vom Bein des Mädchens zum Stuhlbein laufen. Er geht mit den Worten, ich bin gleich wieder da, ins Bad und holt ein Handtuch. “Da kannst du dich daraufstellen, das ist gut, dass du deinen Druck loswirst.“ den Eltern ist es peinlich, der Berater sagt ihnen: Was für ein gutes Zeichen, jetzt braucht sie nicht mehr zu schreien, der Druck hat nachgelassen.
Musste sie nur auf’s Klo? Nein überhaupt nicht, sie war unter Druck und hat dem Gefühl laut Ausdruck verliehen. Die Eltern haben sich sehr bemüht, haben alles ausprobiert und sind auch sehr unter Druck. Nach Wochen rufen sie wieder an beim Berater und teilen ihm mit, die Tochter hat in den letzten Wochen nur einmal geschrien. Sie wiederholt immer wieder, dass sie ihre Eltern lieb‘ hat und die sie ganz arg lieb‘ haben. Sie spielt das mit ihren Stofftieren nach.
Eine solche Familienberatung lässt sich nicht standardisieren, reproduzieren. Sie lebt von der Intuition, vom Wohlwollen aller Beteiligten, es gibt keinen Plan mit Schritt 1 – 8 und dann funktioniert das Kind.
Jede Familiengeschichte ist anders, jede Familie braucht eine andere Intervention, maßgeschneidert. Dabei ist es wichtig die Kinder aus der ‚Schusslinie‘ der Beschuldigungen zu nehmen und die Eltern zu stärken. Kinder zeigen als Echo auf, was ihre Eltern in den Erziehungswald hineingerufen haben. Und Kinder folgen unmittelbar nach, wenn ihre Eltern die nötigen Schritte tun können, um aus ihren alten Selbstbildern auszusteigen. Das kann Jahre dauern und ist in einer Zeit der Machbarkeitsfantasien und schnellen Taktung nicht beliebt.
Was können Fachleute anders machen, um scheinbar haltlose Kinder und verunsicherte Eltern zu stärken? Zuerst einmal darf niemand, kein Kind, kein Elternteil falsch gemacht werden. Dann müssen die verantwortlichen Fachleute in der Lage sein unangemessenes Verhalten auszuhalten. Ebenso ist das Verhalten von der Person (dem Kind) zu trennen. Das Verhalten kann ich freundlich und beharrlich ansprechen, aber sobald ich den Menschen (Elternteil, Kind) dafür falsch mache wie er/sie ist, erreiche ich ihn nicht mehr. Dann kommen manche hilflosen Erwachsenen auf die Idee mit Disziplinierung und Strafen – und der Angst des Kindes vor Strafe – das gewünschte Verhalten zu erzwingen. Dann pariert das Kind, nichtmehr weil es ein wertvoller Teil seiner Familie sein will, sondern aus Angst vor Ausschluss und Strafe.
Jesper Juul und Helle Jensen haben in ihrem Buch »Vom Gehorsam zur Verantwortung – für eine neue Erziehungskultur« den gesamten Prozess eindrücklich für Fachleute beschrieben.
Dabei ist der Begriff Verantwortung – als die Verantwortung des Erwachsenen für die Qualität der Beziehung zu verstehen. Wir Erwachsenen – Eltern, Fachleute – haben die Verantwortung, nicht das Kind. Das Kind ist!
Alle meine Erfahrungen mit hunderten von Familien zeigen, nur so geht es langfristig, wenn das Kind als Hinweisgeber verstanden wird: Mir geht es nicht gut, liebe Eltern bitte ändert was bei euch! Eltern brauchen langfristig Unterstützung/Stärkung, dann folgen die Kinder von selbst nach, denn sie wollen nur eines: dazu gehören. Wenn sie das im Moment nicht zeigen können, sind wir Erwachsenen dran die Anpassungsleistung zu bringen, und uns zu fragen: Was ist bisher falsch gelaufen? Was kann ich tun? Dann kooperieren Kinder mit dem veränderten Verhalten der Eltern!
Von Mathias Voelchert
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