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Am Anfang  habe  ich  mich  als  schlechte  Mutter  gefühlt…

»Am Anfang  habe  ich  mich  als  schlechte  Mutter  gefühlt,  weil  ich  damit  aufgehört  hatte,  ihn  zu ‚erziehen’«
von Jesper Juul

Auszug aus dem Fachbuch von Jesper Juul »Familienberatung«

Dass wir Berater einen Einblick in das Privatleben einer Familie erhalten, ist ein Privileg, um das wir uns verdient machen müssen. Diese simple Erkenntnis wird von uns Experten selten ausgesprochen. Wir diskutieren der Tradition gemäß lieber über die mangelnde Motivation und den Widerstand der Eltern als über unsere eigene Unzulänglichkeit.

Ein Beispiel:

Susanne hat zwei Kinder im Alter von neun und vierzehn Jahren. Seit der Scheidung vom Vater der Kinder vor drei Jahren lebt sie ohne Partner. Die Kinder verbringen den größten Teil ihrer Zeit bei ihr, sind aber auch oft bei ihrem Vater, der in der Nähe wohnt. Susanne ist voller Energie und hat das Gefühl, der gesamten Familie gehe es besser als je zuvor – ausgenommen von einem Problem.

Susanne: „Mein neunjähriger Sohn Max hat Probleme in der Schule. Dabei geht er gerne zur Schule, und die Lehrer mögen ihn auch. Daran liegt es also nicht. Das Problem besteht darin, dass er glaubt, er könne nicht lesen und schreiben lernen. Dabei kann er es doch – vielleicht nicht so gut wie die Besten in der Klasse, aber an seinen Lese- und Schreibfertigkeiten gibt es eigentlich nichts auszusetzen. Ich versuche, jeden Tag ein wenig mit ihm zu lesen, aber das hilft nicht. Was soll ich tun?“

Berater: „Bevor wir darüber reden, was Sie tun können, möchte ich gern ein bisschen mehr über Max erfahren. Wie geht es ihm? Was ist er für ein Mensch?“

Susanne: „Er ist ein fröhlicher Junge … voller Energie. Er ist immer aktiv und hat jede Menge Freunde. (Sie zeigt der Gruppe ein Foto von Max, der tatsächlich Energie, Offenheit und Lebensfreude ausstrahlt.) Natürlich war es schwer für ihn, als wir geschieden wurden, doch nicht mehr als normal, glaube ich.“

Berater: „Was sagt Max selbst über die Sache mit dem Lesen und Schreiben? Ich möchte das so wortwörtlich wie möglich wissen.“

Susanne: „Er sagt eigentlich immer dieselben beiden Dinge. Das heißt, meistens sagt er: ‚Ich lerne das nie. Das ist viel zu schwer.’ Und manchmal sagt er auch: ‚Jedenfalls werde ich nie so gut wie Mathias.’ Mathias ist sein bester Freund seit dem Kindergarten, und der konnte schon vor der Einschulung lesen und schreiben.“

Berater: „Jetzt hätte ich gern noch gewusst, was Sie konkret unternommen haben und ob zeitweise etwas davon genutzt hat.“

Susanne: „Schon am Ende der ersten Klasse habe ich mit seiner Klassenlehrerin darüber geredet. Sie war der Meinung, dass er nicht gut genug war, und machte sich Sorgen darüber, dass er sich am Dänischunterricht nie beteiligte. Sie hat dann vorgeschlagen, dass ich jeden Tag ein bisschen mit ihm zusammen lesen sollte, damit er mehr Übung bekommt. Vielleicht sollte ich noch hinzufügen, dass wir mit seinen Lehrern und der gesamten Schule sehr zufrieden sind.“

Berater: „Jetzt besucht er seit ein paar Monaten die dritte Klasse. Finden Sie, dass es geholfen hat?“

Susanne: „Nein … wenn Sie mich direkt danach fragen, dann muss ich sagen, dass die Situation unverändert ist.“

Berater: „Das ist eine alte Unsitte von Eltern und Pädagogen. Wir sehen ein Problem bei den Kindern und beschließen irgendwelche Maßnahmen. Und wenn wir sehen, dass die Maßnahmen nicht fruchten, dann beschließen wir, die Maßnahmen zu verstärken. Jetzt möchte ich gern von Ihnen hören, was Sie Max antworten, wenn er seine beiden Sätze sagt.“

Susanne: „Natürlich versuche ich ihn zu motivieren. Ich sage zum Beispiel: ‚Komm schon, Max. Das schaffst du schon. Jetzt lesen wir ein bisschen … das kannst du doch schon so gut!’ Aber es hilf nichts. Was glauben Sie, woran das liegt?“

Berater: „Ich weiß es nicht. Das hört sich wie eine fixe Idee von ihm an, aber ich habe keine Ahnung, wie und warum die entstanden sein könnte. Es kommen natürlich einige Dinge infrage: die Scheidung, Max Verhältnis zu seinem Vater, zu Ihnen, zu seiner Klassenlehrerin, zu Mathias, aber vermutlich würden wir sowieso nie herausbekommen, ob unsere Theorie richtig oder falsch ist. Dafür habe ich einen Vorschlag, was Sie tun können, um das Problem zu lösen.“

Susanne: „Den würde ich gerne hören!“

Berater: „Erst einmal müssen Sie damit aufhören, ihn zu motivieren …“

Susanne: „Aber wie soll das denn gehen? Ich kann doch nicht auf einmal so tun, als wäre mir alles gleichgültig!“

Berater: „Wenn ein Junge wie Max Tag für Tag sagt, wie schwer ihm das Lesen und Schreiben fällt, dann tut er das, weil er es lernen will. Er ist motiviert! Wenn Sie oder seine Lehrer versuchen, ihn zu motivieren, dann bewirken Sie damit das Gegenteil, weil Sie die Motivation, die er bereits in sich trägt, nicht anerkennen. Es fehlt ihm etwas, um weiterzukommen, doch Motivation ist es nicht.“

Susanne: „Was dann?“

Berater: „Ich weiß es nicht. Und wenn wir nicht wissen, warum es ihm so geht, wie es ihm geht, und auch nicht wissen, was ihm fehlt, dann müssen wir uns auf das besinnen, was wir wissen und was alle Menschen brauchen – nämlich so ‚gesehen’ zu werden, wie sie sind.“

Susanne: „Aber das tue ich doch schon!

Berater: „Ja, in gewisser Weise tun Sie das auch, aber es ist nicht das, was aus Ihrem Mund kommt, wenn Sie ihn zu motivieren versuchen.“

Susanne: „Aber was soll ich denn sagen?“

Berater: „Etwas sehr Einfaches. Wenn er sagt ‚Das lerne ich nie, das ist viel zu schwer’, dann sollen Sie ihn einfach liebevoll ansehen und ihm entgegnen: Ja, ich weiß genau, dass du es so empfindest.’ Mehr brauchen Sie nicht zu sagen. Glauben Sie, Sie schaffen das?“

Susanne: „Ja, schon … aber glauben Sie wirklich, das hilft?“

Berater: „Ja, das glaube ich. Aber natürlich kann ich nicht sicher sein.

Versuchen Sie es einfach bei der nächsten Gelegenheit und achten Sie gut auf seine Reaktion, dann können wir das nächste Mal einen Schritt weiter gehen.“ (Beim ihrem nächsten Gespräch konnte Susanne berichten, dass Max auf zwei verschiedene Arten reagiert hatte. Er hatte plötzlich innegehalten und sie überrascht angesehen. Dann war er zum ersten Mal kreativ geworden und hatte neue Methoden vorgeschlagen, wie sie die Hausaufgaben machen könnten. Im Lesen und Schreiben wurde er immer besser, wenn er zu Hause mit seiner Mutter arbeitete.

Doch im Dänischunterricht blieb er passiv, obwohl seine Klassenlehrerin ihre Motivationsversuche verstärkte.) Dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie Eltern geholfen werden kann, ein Problem zu bearbeiten. Die Gruppenleiterin hat nichts anderes getan, als sich auf ein gesundes Prinzip zu berufen und dieses so zu formulieren, dass es sinnvoll erscheint und leicht in die Praxis umgesetzt werden kann. Es hätte noch ergänzt werden können durch ein paar erklärende Worte über Selbstgefühl und Selbstvertrauen. Zugleich ist der ganzen Gruppe etwas Fundamentales im Zusammenspiel zwischen Eltern und Kindern bewusst geworden, das so neu ist, dass es nur in Ausnahmefällen von anderen Gruppenmitgliedern berücksichtigt wird.

Unabhängig von der konkreten Problematik, die von Eltern zur Sprache gebracht wird, sind stets diese beiden Elemente wichtig: eine sachliche Perspektive und eine persönliche Anpassung. Beide liegen in dem Maße in der Verantwortung der Gruppenleiterin, in dem die anderen Gruppenmitglieder diese Aufgabe nicht bewältigen.

In obigem Beispiel hatten die Gruppenleiterin und die Mutter das Glück, sogleich die richtige Formel zu finden. Oft bedarf es mehrerer Versuche – sozusagen verschiedener Varianten desselben Prinzips, bis die Eltern eines finden, für das sie einstehen können und das das Problem löst. Und wie gesagt setzt dies häufig voraus, dass die Eltern sich ändern. Susanne brachte das gegenüber den anderen Gruppenmitgliedern folgendermaßen zum Ausdruck: „Es hörte sich so leicht an, aber mein Gott, wie schwierig es war! Ich musste gut nachdenken und mich enorm zusammennehmen, um nicht einfach loszuplappern und das zu sagen, was ich immer sage. Am Anfang habe ich mich als schlechte Mutter gefühlt, weil ich damit aufgehört hatte, ihn zu ‚erziehen’.“

Das Wertvolle der Gruppenarbeit bestand in diesem Fall darin, dass die anderen Eltern ein anschauliches Beispiel dafür bekamen, dass sich das Selbstgefühl eines Kindes nur dann gesund entwickelt, wenn die Eltern es so „sehen“ können, wie es ist.  

Auszug aus dem Fachbuch von Jesper Juul »Familienberatung«

Bild: Dakota Corbin on Unsplash

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