Kinder-ueber-ihren-hausaufgaben

„Bildung ist wichtig, nur wir machen uns den Weg zum Ziel viel schwieriger als notwendig.“ Jesper Juul

Es ist erschreckend, nervig und lähmend, dass dieses Interview mit Jesper Juul
mehr als 10 Jahre später immer noch genau so aktuell ist wie damals. Es hat
sich von den Organisationen und vom Staat her, nur sehr wenig verändert.
Ja, es gibt einzelne Lichtblicke in Kitas und Schulen, aber wenn mich Eltern
fragen: UND, wo gibt es eine solche Schule, so einen tollen Kindergarten
(wie von euch beschrieben z.B. die Schule in Wutöschingen) in meiner
Nähe? Bricht es mir das Herz, so oft keine gute Idee liefern zu können. So
oft zu erleben wie Fachkräfte keine Supervision bekommen, Eltern und
Kinder falsch gemacht werden, wenn sie in Not kommen. Jesper Juul hat den
Weg gewiesen, gehen (umsetzen) müssen wir es schon selber!
Mathias Voelchert Gründer, und Leiter familylab.de (bis 2022).

Interview mit Jesper Juul (1948 – 2019)

Wenn Bildungsangebote kindgerecht gestaltet werden und den Kindern
Spaß machen, treffen sie auf die natürliche Neugierde und Wissbegierigkeit
von Kindern. Es war und ist auch gut, die Qualität des (deutschen)
Bildungswesens (Kitas, Schulen etc.) selbstkritisch zu hinterfragen und
Verbesserungen vorzunehmen. Was aber nach der PISA-Studie passierte,
könnte man als Bildungshysterie und Bildungswahn bezeichnen. Es besteht
immer noch die Gefahr, Kindheit mit der Bildung aus/zuzuschütten.
Die Verunsicherung der Eltern durch Pisa und die Bildungsdebatte hält an;
obwohl es inzwischen auch Gegenstimmen – vor allem in der Fachwelt –
gibt.

Kennen Sie ähnliches auch aus anderen Ländern, z. B. Dänemark?
Wie machen die das mit der kindlichen Bildung?

Ja leider ist es überall in Europa so. Ich stelle mir manchmal vor, dass sich die
Bildungsminister aller Länder vor ein paar Jahren in einem französischen
Schloss getroffen und zu viel Cognac getrunken haben. Seitdem sagen, die
alle genau dasselbe. Die sagen genau dasselbe über Kindergarten und über
Schule. Die haben diese interessante Vorstellung, dass Kinder am besten vom
Unterricht lernen. Das ist ja nicht wahr.
Es gibt überall diese „Pisapsychose“.
Meiner Meinung nach geht es nicht nur häufig schief, sondern es ist wie wir
sagen „viel Geschrei um wenig Wolle“. Es ist auch destruktiv, weil Eltern,
Erzieher und viele Pädagogen mitmachen. Das ist wahrscheinlich besonders
schlecht, weil Kinder in den skandinavischen Ländern und in anderen auch,
viele Stunden in pädagogischen Einrichtungen verbringen.

Stellen Sie sich vor, Sie wären unsichtbarer Zuhörer in deutschen Kitas, bei
Aufnahmegesprächen, Elternabenden, Entwicklungsgesprächen,
Konzeptdiskussionen, überall da, wo das Thema „Bildung“ angesprochen
wird. Was würden Sie den Eltern, Erziehern, später auch den Lehrern in den
Primarstufen empfehlen, was nicht? (Sie waren ja selbst mal Lehrer)

Es gibt in Krippen und Kindergärten einen traditionellen Widerstand gegen
Bildung, d. h. man will gerne alle Ebenen anregen oder stimulieren,
sprachlich, körperlich, aber irgendwie wird Bildung immer dem Spielen
gegenübergestellt.
„Bei uns sollen Kinder nur spielen und dadurch entwickeln die sich und
dann, wenn sie so sechs / sieben, mittlerweile fünf / sechs sind, dann sind sie
zum Lernen bereit.“
Das ist nicht meine Meinung. Ich glaube, es gibt viele verschiedene Kinder,
es gibt auch Kinder, die sozusagen gerne ihr „akademisches Hirn“
entwickeln möchten, auch innerhalb des Kindergartens.
Das ist ein bisschen so wie in der Pubertät. Eltern fragen immer: Was sollen
wir in der Pubertät machen mit Problemen wie „Koma saufen“ und
Ähnlichem. Tatsache ist, dass man in der Pubertät sehr, sehr wenig machen
kann. Was man macht, macht man in den ersten sieben / acht/ neun
Lebensjahren. Und das funktioniert dann wie ein „Immunverteidigungssystem“, wenn die Pubertät kommt.
Kindergärten sind dafür besonders geeignet, dass die Kinder sich in ihrer
eigenen Art und Weise entwickeln dürfen, auch in ihren Eigenarten, sodass
Kinder zu Schulbeginn ein gutes Selbstbild haben - viel Selbstvertrauen und
die Sicherheit, so lernen zu dürfen, wie es für sie am besten ist.
Ich glaube die meisten Kinder lernen am besten, wenn sie wie Forscher
lernen dürfen, d. h., dass sie Theorien entwickeln, Experimente machen …
Vor allem brauchen Kinder heute nicht-gelingende Experimente; es ist sehr
sehr schwierig für Erzieher und auch für Eltern das zu beobachten. Sie
wollen lieber jedes Mal Erfolg – keine Enttäuschung, kein Schmerz, kein
Frust usw. Es muss irgendwie so wie „in Öl“ funktionieren.

Bildung aus Kindersicht – aufgrund Ihrer Erfahrungen: Was erleben Kinder
positiv, was macht unsicher, macht Angst, was führt zum Verlust der
Lernfreude?

Das ist interessant. In Dänemark haben wir über viele Jahre – manchmal als
Notlösung – sogenannte Waldkindergärten gehabt. Jetzt gibt es viele und
unsere Forscher stellen fest, diese Kinder sind auf allen Ebenen, z. B.
gesünder und besser als andere. Da gibt es keine Bildung. Es gibt nur dieses
Forschen, mittlerweile in kleineren Gruppen, die die Kinder selber
organisieren. Das ist, was die Schule „soziale Kompetenz“ nennt und glaubt,
den Kindern beibringen zu können, was ja so nicht richtig ist.
„Bildung ist wichtig, nur wir machen uns den Weg zum Ziel viel
schwieriger als notwendig“ (JJ)

? Wie ginge es besser, kindgemäßer? Was könnten Eltern, Erzieher/-innen
und Lehrer tun/anders machen?

Ein bisschen nördlich von Hamburg gibt es eine ausgezeichnete Pädagogin.
Sie leitet eine Einrichtung mit sehr wenig Personal und bis zu 90 Kindern
pro Tag. Sie ist über diese Bildungssituation so wütend geworden. Sie hat
innerhalb ihres Kindergartens einen Lernraum gemacht mit Angeboten zu
Mathe, Deutsch und allem Möglichen. Es gibt aber kein Personal. Sie hat
nur mit Zeichnungen gezeigt, was man hier machen kann. Die Kinder
dürfen montags nicht rein gehen, weil sie sich montags bewegen müssen,
vielleicht weil sie am Wochenende zu Hause lange vor dem Fernseher
gesessen haben. An den anderen Tagen dürfen sie hinein und sie wissen, es
gibt keine Hilfe.
Und mittlerweile lernen die Kinder auf ihre eigene Art und Weise ganz aus
sich selbst. Das ist natürlich eine Herausforderung für Schule und für
Menschen, die glauben, wir müssen immer dabei sein. Ich glaube, das ist
einer der größten Fehler, den wir überhaupt im Moment machen – und
damit meine ich auch die Eltern.
Es müssen immer Erwachsene dabei sein, sie müssen immer etwas machen,
dass sie wertvoll oder nützlich finden. Dann wird es immer ein Wettbewerb.
Die Erwachsenen haben diese Sehnsucht, nützlich zu sein. Die Kinder haben
ihrerseits ein sehr wichtiges Bedürfnis und das ist, sich als wertvoll zu
erleben, einer der überhaupt wichtigsten „Fundamentsteine“, um zu lernen.
Und das wird heute sehr sehr oft gewaltig zerstört - die Erwachsenen gehen
entweder häufig vorne und ziehen die Kinder oder sie gehen hinten und
schieben sie. Sie gehen nicht neben her und vor allem, die Kinder dürfen
nicht alleine sein. Es gibt weniger und weniger erwachsenenfreie Zonen.
Das ist schade und wir können es nicht kompensieren. Es ist ein
Riesenverlust für Kinder. Tatsache ist, dass Kinder in den letzten 25 Jahren
dänische, schwedische, norwegische Kinder zwischen dem ersten und
fünfzehnten Lebensjahr 25.000 Stunden in „pädagogischen
Zwangseinrichtungen“ verbringen. Sie können nicht wählen. Gott sei Dank
haben wir es geschafft, vernünftige Einrichtungen zu machen, sodass die
meisten Kinder gar nichts dagegen haben, es ist völlig ok.
Was aber mittlerweile passiert ist, dass die Eltern, die ja auch selbst im
Kindergarten waren, Pädagogen zum Vorbild haben anstatt ihrer Eltern. Das
macht das Leben von Kindern sehr schmerzhaft. Die Eltern versuchen, ab 16
Uhr das weiter zu tragen, was die Pädagogen machen. Es ist eigentlich ein
Kompliment an die Erzieher oder Pädagogen, aber es gibt immer diese
externen Stimuli und die Kinder werden danach süchtig. Wenn sie nach
Hause kommen, dann wollen sie mehr. Das kann eine DVD, Computer
oder der Besuch irgendeines Spielparks sein. Die Eltern wissen es nicht
besser und glauben, dass sie das machen müssen, um gute Eltern zu sein.
Und dann haben wir Kinder, die zu Schulbeginn außerhalb ihrer selbst sind.
Sie können nicht stillsitzen, können nicht lernen, können nicht reflektieren,
alles das, was sie eigentlich können müssten, um zu lernen. Da tun wir im
Moment viel dafür, dass Erzieherinnen lernen, dass es einen
Riesenunterschied zwischen Pädagogik und familiärer Erziehung gibt
Lösungen, die man in Einrichtungen verwendet, sind oft nicht die richtigen
für den Familienzusammenhang. Das ist das Eine. Das Andere ist, dass die
Erzieherinnen fast nichts über Familien wissen. Erzieherinnen wissen oft
ganz viel über Kinder, aber leider sehr wenig über Erwachsene. Das heißt,
dass die Zusammenarbeit mit Eltern schwierig wird. Wir sehen tatsächlich
jetzt im Norden Jahrgänge von Kindern, die sich selbst nicht spüren. Wenn
man sich selbst nicht spürt, dann kann man auch nicht lernen. Das heißt,
nicht, dass Kindergarten oder Eltern Schuld haben, es bedeutet nur: „Jetzt ist
es zu viel!“. Die Anregungen kommen von allen Seiten. Zeit für Kreativität
gibt es fast nicht mehr. Oder es ist organisierte Kreativität und da ist man ja
nicht notwendigerweise kreativ.
Denn Kreativität entwickelt sich aus einem inneren Bedürfnis und wenn man
sein Inneres nicht spüren kann, dann wird man nicht kreativ, dann kann man
nur malen u. ä.
Ich plädiere sehr dafür, dass Kinder sich langweilen dürfen. Und Eltern
müssen lernen, dass sie, wenn ihr Kind sich langweilt, kein schlechter Vater
oder keine schlechte Mutter sind. Heute geht es ja oft in der Erziehung um
das Selbstbild der Eltern oder ihr Image und nicht so viel darum, was Kinder
eigentlich brauchen.

Die Natur braucht ihre Zeit. Was sagt man Eltern, die ihr Kind mit aller
Gewalt fördern wollen?

Genau das sagt man diesen Eltern einfach: die Wahrheit. Und das ist das
große Problem (für sie). In Dänemark zumindest sind die Eltern kritischer
geworden. Sie sehen Schulen und Kindergärten als Dienstleister. „Wir
zahlen dafür und deshalb haben wir recht.“ Es braucht nur eine erwachsene
Pädagogin oder einen Pädagogen, der den Eltern freundlich in die Augen
guckt und sagt: „Hör mal, so ist es bei uns nicht. Das machen wir nicht mit
und wir wissen genau, warum wir das nicht mitmachen. Sie können gerne
mit Ihrem Kind zu Hause.
Buchstaben üben, wenn Sie das wollen, kein Problem für uns. Wir bereiten
Ihr Kind gerne vor, sodass es, wenn es nach Hause kommt, ein bisschen
Energie übrig hat, sodass es mit den Eltern lernen kann. Was ich meine ist,
dass die Eltern so einen Hunger nach Input haben, nach allem was sinnvoll
ist. Und mich ärgert es, wenn Fachleute sich über Eltern beschweren und
nicht einfach Fachleute sind und sagen: „wunderbar, jetzt wissen wir, welche
Erwartungen Sie an uns haben. Das können wir leider nicht alles erfüllen.
Wir glauben … und dann kommen diese ganz konkreten Dinge. Kleine
Kinder brauchen z.B. das Dösen für die Entwicklung ihres Gehirns. Und das
wollen Sie ja, dass das Gehirn funktioniert oder nicht? Ok, dann braucht das
Kind Pausen, es braucht dieses und jenes. Also es ist eigentlich ganz einfach,
aber irgendwie werden die ErzieherInnen und LehrerInnen überall auf der
Welt defensiv. Ich frage Pädagogen oft: „Hast Du keinen fachlichen Stolz,
keinen eigenen Standpunkt? Haltungen gibt es viele, aber es gibt Dinge, die
Du einfach weißt oder nicht weißt. Du musst nicht gegen die Eltern
kämpfen, sondern nur freundlich Deinen Standpunkt vertreten.“
Wenn Eltern z.B. fragen, warum man in diesem Kindergarten nicht Englisch
lernen kann, kann man sagen: „Ich glaube, ich muss jetzt ein bisschen mehr
über Ihre Vorstellungen und Ihre Pläne für Ihr Kind hören. Haben Sie eine
halbe Stunde Zeit? Es ist wichtig, dass wir das alles nach Möglichkeit
koordinieren.“ Wenn Eltern die Möglichkeit bekommen über Ihre Träume
und Ziele zu reden, dann können sie sich selbst beobachten, hören und
werden dann nicht so fanatisch.
Und dann kann man sagen: „Oh, das ist aber ein Haufen für einen
Dreijährigen, hoffentlich schafft er es…“
Ein bisschen Humor ist ja auch ok. Es gibt für die Eltern keine Gegenspieler
- das wäre sehr wichtig.
Es gibt im Moment viele Fachleute, die genau so denken wie die Eltern. Ich
verwende dann ein ganz einfaches Bild, das jeder verstehen kann: Ungefähr
zehn, Tage bevor ein Kind selber stehen oder laufen kann, krabbelt es zum
nächsten Stuhl und denkt: „Ich will auf diesen Stuhl klettern und das schaffe
ich.“ Dann muss das Kind es 23 – 25 Mal innerhalb der nächsten vier
Wochen versuchen und dann passiert es. Und diesen Lernprozess sollte man
nicht mit sogenannter Fürsorge stören: „Pass auf, das kann wehtun.“ Oder:
„Du bist noch zu klein dazu!“ Die Eltern, die das wirklich machen, kaufen
innerhalb einer halben Stunde einen Stuhl, der nicht so hoch ist… Es darf
nicht schwierig sein, es darf nicht wehtun, alle Elemente, mit denen man
lernt, nehmen die Eltern am liebsten weg. Und genau so, muss ich leider
sagen, die Erzieher.
Meine große Sorge gilt der fanatischen Antiaggressivität in pädagogischen
Einrichtungen. Das Problem im Kindergarten für Kinder ist, dass sie immer
nett sein müssen. Wenn das immer so ist, dann kann man seine viele
Intelligenz nicht entwickeln. Es geht einfach nicht. Es hat mich sehr gefreut,
dass eine große Studie, die von einer Universität in Dänemark veröffentlicht
wurde, bestätigt, dass wir in den letzten 30 Jahren Milliarden aus dem
Fenster geschmissen haben und es nicht geholfen hat. Dem zugrunde liegt
das gleiche Konzept, nämlich dass Kinder vom Unterricht lernen. Was hat
man gemacht?
Die Kinder hatten Schwierigkeiten mit Sprache und Mathematik. Dann hat
man aus einer Klasse die Kinder zusammengefasst, die die gleichen
Schwierigkeiten hatten und die mussten sich noch viel mehr Wochen mit
dem beschäftigen, was sie nicht schaffen und dann sollte alles besser werden.
Jetzt hat man endlich entdeckt, dass es so nicht geht. Die werden nicht
besser! Warum? Die alte pädagogische Theorie sagt ja, dass diese Kinder zu
viele Niederlagen erlebt haben. Was sie brauchen, ist, Erfolg zu haben. Das
ist richtig, wenn das, was den Kindern fehlt, Selbstvertrauen im Lernprozess
ist. Aber wir haben Jahrzehnte lang gesagt, dass es so nicht mit diesen
Kindern ist. Diese Kinder brauchen Selbstgefühl. Wenn man kein
Selbstgefühl hat, dann fühlt man sich dumm und wenn man sich dumm
fühlt, kann man nicht lernen.
Da können wir auch über Gefühle reden, wenn alle Gefühle, die ich habe,
falsch sind oder die Erwachsenen stören oder meine Mutter sich überfordert
fühlt.
Dann bin ich ja falsch und dann kann ich nicht lernen. Das ist ein
Teufelskreis, wo sich alles um die falsche Achse dreht. Ich möchte gerne
sagen, dass die Kleinkinderpädagogik sich entwickeln sollte, dass es erlaubt
ist, zu lernen für Kinder, die es lieben, sich hinzusetzen und Schule zu
spielen. Wir sollten es diesen Kindern möglich machen und nicht sagen:
„Hier darfst Du nur spielen.“ Selbstgefühl kommt ja auch daher, dass man
sich langsam selber entfalten darf, dass man sich in seinem eigenen Tempo
selbst kennenlernt und nicht immer motiviert und in verschiedene
Richtungen geschoben wird.
Pädagogen reden ja oft über Eltern, die aus ihren Kindern „Projektkinder“
machen, aber Eltern haben immer aus ihren Kindern „Projektkinder“
gemacht. Vor vielen Jahren, aus der Dorfperspektive sozusagen, war das
keine Frage.
Wenn ich Bauer und mein erstes Kind ein Sohn war, dann musste er
übernehmen. So war es und das ist auch ein Projekt. Die ErzieherInnen
machen jeden Tag Projekte mit den Kindern, so haben ErzieherInnen also
auch „Projektkinder“, nicht nur zu Hause sondern auch jeden Tag in der
Einrichtung. Und das sehen sie nicht. Sie glauben, es sind nur die Eltern.
Mein Lieblingszitat aus Deutschland stammt von Goethe: „Man merkt die
Absicht und ist verstimmt!“ Und genau deswegen können Kinder nur bis zu
fünf Stunden Pädagogik am Tag vertragen und das ist schon viel.
In Deutschland gibt es eine furchtbare Entwicklung, dass Kinder, die nicht
genau so sind, wir die Erwachsenen es sich vorstellen, werden in allerlei
Therapien geschickt – Physiotherapie, Ergotherapie, Psychotherapie …Und
wenn man als Eltern glaubt, damit haben wir etwas Gutes für die Zukunft
unserer Kinder getan, dann macht man einen Riesenfehler, weil so ist es
nicht. Das geht nicht. Wir sind als Psychologen oder Therapeuten oft eine
Notlösung.
– eine Lösung für Menschen in Not, aber diese Kinder sind nur in einer Art
von Not und das ist, dass sie Erwachsene um sich herum haben, die nicht
wahrnehmen, ernstnehmen und sie einfach so sein lassen wie sie sind.

Seit in Deutschland früher eingeschult wird, ist die Verschreibung von
Ritalin für Kinder sprunghaft gestiegen – weil die Kinder sich noch nicht so
gut konzentrieren können und unruhig sind.

Das ist Wahnsinn. Dann könnte man auch sagen, dass es für die
Erwachsenen notwendig ist, dass man an jedem Arbeitsplatz jeden Morgen
sein Ritalin vom Arbeitgeber bekommt, um funktionieren zu können. Dann
hätten wir eine Revolution – vielleicht nicht in Deutschland, aber bei uns in
jedem Fall.

Wie sieht die Rolle der Erzieherinnen aus, wenn das „Kindeswohl“ objektiv
gefährdet ist Eltern Ihrer Rolle nicht gerecht werden können. Was macht
man da?

Was man da macht? Man fängt an, sich für Familien zu interessieren. Ich
mache gerade z.B. den letzten von vier dreijährigen Lehrgängen in Salzburg
zum Thema Familienberatung.
Es sitzen dort Ergotherapeuten, Physiotherapeuten, Lehrer, Erzieher und
andere Experten. Alle mit mehr als zehn Jahren Berufserfahrung wissen, dass
sie nichts nur allein mit dem Kind machen können. Sie brauchen eine
Familienberatung, wissen aber nicht, wie sie das den Eltern sagen können –
im ersten Jahr. Im zweiten Jahr haben sie entdeckt, dass sie das ohne
Probleme sagen können und die Eltern kommen. Und im dritten Jahr fragen
die sich, warum sie überhaupt Ergotherapie gelernt haben, weil es gibt ja so
wenige Kinder, die Ergotherapie brauchen.
Aber das ist besonders in unserer Kultur – Familie ist tabu. Wir reden immer
darüber, aber es ist tabu.
Es ist wirklich interessant, dass die Hauptidee der Tageseinrichtungen für
Kinder- und ich rede hier nicht von 2 x Spielgruppe die Woche-, sondern
von acht Stunden jeden Tag, ist, dass die Kinder dort soziale Fähigkeiten
lernen. Das haben wir 20 Jahre lang gemacht, seit den 90igern. Und dann
sagen die Schulen, dass die Kinder von heute keine sozialen Fähigkeiten
haben. Es gab zwei große Änderungen im Leben von Kindern. Die Eine war
der Besuch einer pädagogischen Einrichtung und das Zweite, dass die
Mütter auf dem Arbeitsmarkt waren. Das war die Zeit der großen
Änderungen. Die Schulen haben Erfolg damit gehabt, dass sich die Eltern
schuldig fühlen. Sie sagen, dass die Eltern ihre Kinder nicht mehr erziehen.
Und das ist ja richtig, denn sie werden ja in diesen „Kinderparkplätzen“
erzogen. Das ist ein eine gemeinsame Antwort für Eltern und ErzieherInnen.
Die ErzieherInnen sagen bis heute: „Wir sollen ja nicht erziehen, das
machen die Eltern. Wir sollen die Kinder nur beschäftigen.“ Niemand will
diese Verantwortung übernehmen und mittlerweile machen die Kinder es so
gut wie möglich. Eins können wir feststellen: Wenn man kollektivistisch
erzogen wird, wird man ganz schnell Individualist. Und die deutschen
Kindergärten, die dänischen, die italienischen, Kindergärten überall sind alle
für Kollektivismus, die wollen alle gehorsame Kinder haben, die wollen alle
Kinder haben, die ein Gefühlsregister mit so drei, vier Tonalitäten haben,
aber bitte nicht mehr. Sie wollen alle diese A3 –Kinder haben oder A5 heißt
es, A3 ist ja groß.
Leider ist es ja auch so, dass man seine Individualität durch Trotz entwickeln
kann und das ist schlecht für alle. Denn dann bin ich immer gegen etwas und
dann bin ich nicht für mich.

Für Sie sind Integrität + Gleichwürdigkeit + Authentizität +
Verantwortung ganz wichtige Begriffe – was bedeuten sie und was bedeuten
sie für unser Thema?

Ich weiß ja fast nichts über Bildung. Ich weiß nichts über Unterricht, wie
man am besten Mathe oder Französisch lehrt. Ich habe damit sehr wenig
Erfahrung. Was ich weiß ist, dass es wichtig ist, dass das ganze Lernmilieu
optimal ist und das geht immer über Beziehungen. Das haben die Lehrer
nicht gelernt und die Erzieher auch nicht. Also es gibt zwei wesentliche
Punkte, die heute für jeden Lehrer und jeden Erzieher notwendig sind: Sie
müssen sinnvolle Dialoge mit Eltern gestalten können, das haben sie nicht
gelernt und man muss sinnvolle Dialoge mit Kindern gestalten können – das
haben sie auch nicht gelernt. Uns natürlich fühlen sie sich unsicher und
versuchen alles Mögliche andere. Und ich höre immer von den Erziehern,
auch von den wirklich Guten, die zu Fortbildungen kommen, wenn sie über
Eltern reden, gibt es immer eine moralische Kritik. Dieser Unterton ist
immer da.
Und dann wundern sie sich, warum die Eltern nicht mit ihnen kooperieren
wollen. Genau dasselbe in der Schule. Wenn ein Kind schlechte Noten
bekam, oder nicht mehr optimal funktionierte, wie man sagt, dann ruft man
die Eltern und sagt: „So ist das mit ihrem Kind und Sie müssen etwas
machen – Auf Wiedersehen!“ Also es gab kein Gespräch. Und trotzdem
glauben wir, dass wir das alles retten können, wenn die Kinder noch eine
Stunde Deutsch pro Woche mehr haben oder Mathe oder was der nächste
Punkt in der Pisa-Studie sein wird.
In allen anderen Studien wird gefragt, was für Menschen sind eigentlich die
Jugendlichen? Wie leben sie? Welche Kompetenzen haben sie? Und was
haben sie nicht?
Dabei stellt man immer fest, dass die Jugendlichen aus Dänemark es am
besten schaffen. Sie schaffen es am besten in der großen Welt, am
Arbeitsmarkt usw., weil sie genau diese Fähigkeiten haben. Sie haben z.B.
gelernt, wie man lernen kann. Sie haben ein Selbstbewusstsein, das nicht so
egozentriert ist. Aber das fängt ja im Kindergarten an. Das lernen sie ja nicht
im letzten Jahr am Gymnasium. Ich bin ja kein Akademiker, aber wenn ich
es wäre, dann würde ich mich in den nächsten zehn Jahren damit
beschäftigen wie wir diese Gegensätze aufheben können, denn sie sind
meiner Erfahrung nach fast alle historisch, also lernen – spielen oder soziale
Fähigkeiten – akademische Fähigkeiten und so geht das weiter.
Und diese Trennung ist meiner Meinung nach historisch, das ist noch nicht
so alt, etwa 40/50 Jahre. Es sollte möglich sein, dass jemand sagt: „Hör jetzt
auf damit, weil es nicht
stimmt. Es ist nicht so. Wir werden innerhalb der nächsten zehn Jahre sehen,
und das ist meine Prophezeiung, dass ein sehr bedeutender Mensch
feststellen wird, dass wir einen totalen Paradigmenwechsel brauchen, denn
was wir jetzt machen funktioniert nicht. Das Gleiche entwickelt sich im
sozialpädagogischen Bereich und mit ein bisschen mehr Pessimismus in der
Schule. Es ist nicht so, wie wir das gerne wollen und wir tun, was
Erwachsene immer gern getan haben, wenn irgendetwas nicht wirkt, dann
machen wir noch mehr des Gleichen. Und das ist Traurig.

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