Wie trauern Kinder? – von Christiane Mathis

Kinder trauern ganz anders als Erwachsene. Sie stehen mitten in ihrer eigenen Entwicklung und ihrem Wachstum, für das sie eine Menge Energie, Raum und Zeit benötigen. Diese Entwicklungsprozesse können nicht einfach abgeschaltet oder in den Hintergrund geschoben werden, damit ein Kind in Ruhe trauern kann.

Das bedeutet, dass ein Kind beides, die eigene Entwicklung und die Trauer, parallel bewältigen muss. Ein Kind kann das und es gelingt ihm meist besser, als Erwachsene es erwarten würden. Dafür braucht es nur feinfühlige Erwachsene, die es verstehen und entsprechend seiner jeweiligen Bedürfnisse begleiten können.

Erwachsenentrauer verläuft, bildlich gesprochen, ein wenig wie ein dauerhaft klingender Ton im Hintergrund, der immer präsent ist, manchmal lauter, manchmal leiser, manchmal unerträglich. Kindertrauer hingegen ist ein bisschen wie in Pfützen hüpfen, Kinder laufen ihren Weg der Alltagsnormalität entlang und springen manchmal in eine Trauerpfütze. Danach geht ihr Leben einfach wieder weiter.
Im Gegensatz zu Pfützen jedoch, die normalerweise unwiderstehlich sind und Spaß verheißen, stehen trauernde Kinder in diesen Momenten buchstäblich mit den Füßen im unangenehmen, kalten Nass. Es ist erleichternd, wenn Erwachsene ihnen dann eine Hand reichen, um sie aus dieser Pfütze hinauszubegleiten. Oder wenn Erwachsene selbst Gummistiefel tragen, mitfühlend zu dem Kind hineinsteigen und mit ihm gemeinsam aus ihr heraussteigen. Manchmal braucht ein Kind auch einen Arm, um aus einer tiefen Pfütze hinausgetragen zu werden. Damit das jeweils gelingen kann, ist es wichtig zu verstehen, was in trauernden Kindern vorgeht.

Für alle Menschen gilt gleichermaßen, dass jede ihrer Verhaltensweisen zu jedem Zeitpunkt sinnvoll ist. Es gibt kein unsinniges Erleben und Verhalten; alles, was wir tun, ergibt in diesem speziellen Moment für uns einen Sinn.

Diese innere Sinnhaftigkeit ist für Außenstehende nicht immer leicht nachzuvollziehen oder zu verstehen. Es ist auch nicht notwendig, das Verhalten einer anderen Person stets zu verstehen oder gutzuheißen. Es genügt, ein grundlegendes Zutrauen in die verborgene Sinnhaftigkeit ihres Verhaltens zu besitzen und es erst einmal so hinzunehmen, wie es gerade ist.
Wenn also ein trauerndes Kind beispielsweise ein Hilfsangebot verweigert, wütend wird und den Raum verlässt, handelt es weise und selbstfürsorglich. Es folgt seiner eigenen inneren Logik, die mit unserer Logik nicht unbedingt übereinstimmen muss.

Menschliches Verhalten ist zu jedem Zeitpunkt zusätzlich Ausdruck der eigenen innewohnenden Weisheit, die jeder von uns besitzt. Um also adäquat auf unser Gegenüber reagieren zu können ist es deshalb wichtig, es verstehen zu wollen. Als Erwachsene sind wir nicht offen für Einsicht, Verständnis, Lernen oder Kooperation, wenn wir wütend, frustriert, traurig oder verletzt sind. Kindern geht es ebenso. Wenn ich ein frustriertes, verärgertes Kind wütend sein lassen kann und nicht versuche, es in seinem Verstehen und Verhalten zu korrigieren oder gar von meinen guten Absichten oder Gründen überzeugen zu wollen, sondern es erst einmal entspannen lasse, ins Herz nehme und verstehen möchte, lege ich einen Zugangsweg zu ihm.
Erst dann habe ich die Möglichkeit, es in seiner Not zu erreichen. Es ist hilfreich, sich diese Gedanken innerlich vor Augen zu führen, wenn wir mit Kindern, Familien, sowie allgemein mit Menschen in Kontakt sind, die gerade eine persönliche Krise durchleben.

Ob Trauerbegleitung gelingt, hängt bei Kindern jeweils davon ab, inwieweit wir Erwachsene uns in die individuelle kindliche Erlebniswelt hineinversetzen können, um sie zu verstehen. Gewöhnlich liegt uns diese ferner, als es uns unsere erwachsene Erlebniswelt tut. Je nachdem, wie weit unsere eigene Kindheit zurückliegt, oder in welcher Erinnerung wir sie haben (vielleicht mögen wir uns nicht gerne daran zurückerinnern oder es gelingt uns nur schwer), fordert uns ein Perspektivwechsel mehr oder weniger heraus.

Perspektivwechsel bedeutet: Ich verlasse meine eigene Sicht auf diese Situation. Ich denke nicht von außen über mein Gegenüber nach oder versuche, mich in mein Gegenüber hineinzuversetzen, denn damit sähe ich immer noch durch meine eigenen Augen. Stattdessen versuche ich, durch die Augen meines Gegenübers zu sehen, zu fühlen, zu begreifen, zu erleben und zu verstehen, was diese Person gerade erlebt, wie es sich für sie anfühlt und was sie mit ihrem Verhalten vielleicht ausdrücken möchte. Wem das zu Beginn nicht gleich gelingt, könnte versuchen, sich vorzustellen, wie diese Situation für ihn selbst wäre, würde es ihn gleichermaßen betreffen.
Diese Transferleistung im Alltag zu praktizieren ist normalerweise nicht weit verbreitet. Anfänglich kann ein echter Perspektivwechsel vielleicht ungewohnt sein, deshalb braucht das Erlangen dieser Fähigkeit eine Weile Übung und Geduld.
Da wir Menschen Beziehungswesen sind, ist es unerlässlich, darüber nachzudenken, welches Beziehungsangebot wir trauernden Kindern und Familien machen. Beziehungsorientierte Trauerbegleitung bedeutet, dass die Beziehungsqualität im Familienleben und in einer Trauerbegleitung sowohl eine wichtige Rahmenbedingung, als auch den Dreh- und Angelpunkt für eine gelungene Begleitung darstellt.
Im besten Fall bieten wir selbst eine Beziehung an, die gleichwürdig, empathisch, respektvoll, feinfühlig, herzoffen, authentisch, beständig, ausgewogen, integer und verantwortungsvoll ist.

Wie Sie bemerken, kann man diese Beziehungsqualitäten weder vorspielen noch vortäuschen, sondern wir strahlen sie aus, wenn wir sie in uns tragen. Falls wir an manchen dieser Eigenschaften noch ein wenig Nachhol- und Entwicklungsbedarf haben, sind Kinder gute Hinweisgeber und machen uns direkt oder indirekt darauf aufmerksam.
Deshalb ist gute Trauerbegleitung stets ein gemeinsamer Entwicklungsweg, und keine Einbahnstraße von uns zum Kind. Wir entwickeln uns gemeinsam.

 

Auszug aus „Kindertrauer verstehen“ von Christiane Mathis, 2024, Books on Demand

Profil von Christiane Mathis
www.christiane-mathis.de

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