Warum haut mein Kind andere Kinder? – von Sara Badawi
Der folgende Artikel erschien im Rahmen der Good Enough Parents „Elternberatung“
Frage: „Mein Sohn ist 4 Jahre und 4 Monate alt und haut sehr häufig andere Kinder, sogar seine Freunde. Die Gründe sind unterschiedlich: Wut, Zuneigung, Freude, Ablehnung oder Testen, was ich tue.
Ich weiß, dass er nicht aggressiv an sich ist, aber es ist so schwer zu wissen, wie ich reagieren soll und vor allem dann noch die Blicke und Meinungen der anderen…
Ein Beispiel :
Mein Sohn und ich waren im Kino und standen an der Popcorntheke an.
Tobi ging dann zu einem jüngeren Kind und haute es gegen die Brust.
Die Mutter des Kindes sagte sofort in einem energischen Ton: „Ey, was soll das?“
Ich sagte dann: „Tobi, nicht das Kind hauen!“ und „Entschuldigung“ zu der Mutter.
Anschließend drehte ich mich nochmal zu meinem Sohn und sagte, er kann das nächste Mal auch „Hallo“ sagen zu dem Kind, wenn er spielen möchte.
Antwort:
Vielen Dank für deine Frage!
Ich möchte dir zunächst ein wenig Rückendeckung in Bezug auf das – gesellschaftlich etwas schwierige – Thema „Aggressionen“ geben. Ich empfehle immer, die Begriffe Aggression und Gewalttätigkeit zu differenzieren.
Aggressionen sind generell wichtig für uns und nicht aus dem Leben wegzudenken, denn sonst könnten wir uns nicht durchsetzen, unsere persönlichen Grenzen nicht „verteidigen“, keine Wettbewerbe gewinnen und vieles mehr.
Was mitschwingt, ist vielleicht die Angst, dein Kind könnte gewalttätig sein oder werden. In unserer Gesellschaft scheint ein generelles Aggressionen-Tabu zu herrschen, was Eltern oft in Erklärungsnot bringt. Man scheint verhindern zu wollen, dass ein Kind sich zum gewalttätigen Menschen entwickelt, indem man Aggression von der Wurzel auf – also im Kleinkindalter – unterdrückt und verbietet. So werden Eltern von Kleinkindern häufig in Kitas oder auf Spielplätzen für das aggressive Verhalten ihrer Kinder zur Rede gestellt, welches jedoch völlig altersentsprechend und normal ist.
Es gibt die weit verbreitete Idee, Kinder sollten nach der ersten Autonomiephase, also etwa mit vier oder fünf Jahren, ihre Impulskontrolle „gelernt haben“ und dann dürften keine Aggressionen mehr zu Tage treten. Das ist natürlich Quatsch. Sie haben ihr ganzes Kinderleben lang Zeit, Sozialkompetenz zu üben und nach und nach beispielsweise „Hauen“ durch „Sprechen“ zu ersetzen. Das geschieht durch die richtigen Erfahrungen dazu. Also verhindern wir, wenn wir den Kindern Erfahrungen durch Verbote untersagen, das Lernen von Sozialkompetenz.
Es fällt wohl ein wenig auf, dass bedürfnisorientiert aufgewachsene Kinder im Alter von etwa drei bis sechs Jahren oft scheinbar aggressiver reagieren als andere. Die Theorie ist, dass das Selbst dieser Kinder sich freier entwickeln kann und sie Gefühle wie Wut, Angst und Panik nicht tief vergraben müssen, so wie bei autoritär erzogenen Kindern.
Gerade auf dein konkretes Beispiel bezogen, bist du mit dem Erkennen der Gründe und mit dieser kurzen Erklärung für deinen Sohn, dass hier das sozialkompetente Verhalten der Wahl eher „Sprechen“ statt „Hauen“ gewesen wäre, wahrscheinlich auf dem richtigen Weg.
Was wichtig ist – und da darfst du für dich nochmal prüfen, wie es um dich als Familie und deinen Sohn steht:
Jeder Mensch möchte für andere geliebte Personen wertvoll sein. Verliert in einer Beziehung ein Mensch – Kind oder Erwachsener – dieses Gefühl, für sein Gegenüber wertvoll zu sein, wird mit Aggression (oder Rückzug) reagiert.
Generell lohnt es sich also, jedes aggressive oder selbstdestruktive Verhalten eines Kindes oder Jugendlichen als eine Einladung zu sehen, seine Welt und seine Gefühle kennenzulernen und seine Perspektive zu verstehen: Ist dein Sohn gut versorgt? Wie geht es ihm? Fühlt er sich wertgeschätzt und anerkannt in seinem Umfeld? Werden seine Bedürfnisse gesehen?
Zeigt er vielleicht durch sein Hauen, dass es ihm nicht gut geht, er sich nicht wertgeschätzt und anerkannt fühlt?
Jesper Juul benennt folgende fünf Qualitäten, die im Leben eines aggressiven oder gewalttägigen Menschen Früchte tragen: Dialog, Interesse, Neugierde, Anerkennung, persönliches Feedback.
Oder: Bekommt er zu viel von etwas, was er nicht braucht und zu wenig von dem, was er braucht? Habt ihr die Möglichkeit, ihm authentische, klare Eltern zu sein? Kannst du Frustrationen mit ihm aushalten, oder hast du das Gefühl, dass du zum Beispiel häufig seine Wünsche erfüllst, um Konflikte zu vermeiden?
Dann kann es sein, dass sein Hauen ein Hilferuf nach Führung und echter, authentischer Rückmeldung und Beziehung ist!
Die Signale, die unsere Kinder senden, beziehen sich meistens auf ihre Haupt-Beziehungen, also die Beziehungen in ihrer Kernfamilie, Eltern, Geschwister, vielleicht noch Großeltern. Das Ausagieren findet allerdings in den weniger wichtigen Beziehungen, also häufig im Kindergarten oder bei weiter entfernten Menschen, statt.
Erkennst du dein Kind in meinen Beschreibungen wieder?
Ich empfehle, der Einladung zu folgen und die Welt und Gefühle deines Sohnes kennenzulernen und zu schauen, was er braucht und wie seine Hauptbeziehungen aussehen. Gibt es gestresste oder streitende Eltern? (Groß-) Eltern, die krank oder in Nöten sind? Gibt es Geschwister, die dafür sorgen, dass er nicht so gesehen wird, wie er es braucht?
Jesper Juul benennt folgende fünf Qualitäten, die im Leben eines aggressiven oder gewalttägigen Menschen Früchte tragen: Dialog, Interesse, Neugierde, Anerkennung, persönliches Feedback.
Das sind mögliche Wege für ein echtes „In-Beziehung-gehen“ und das Kennenlernen der Perspektive deines Kindes.
<3 Alles Gute!
Dr. Sara Badawi ist Kinderärztin, tiefenpsychologische Therapeutin für Kinder und Eltern sowie familylab-Familienberaterin. In ihrer beratenden und therapeutischen Arbeit beschäftigt sie sich neben Themen wie Stillen, Schlafen und Essen auch um bedürfnisorientiertes Miteinander in Familien aller Art, wiederkehrende Konflikte sowie Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen.
Profil von Sara Badawi | Webseite: www.sarabadawi.de