Interview auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=Rjk3mXLa1dw Übersetzung aus dem Englischen: Nuka Matthies
Realisierung: familylab.de /Mathias Voelchert GmbH
Gabor Maté Und je autoritärer wir werden, je mehr Druck wir ausüben, desto mehr Widerstand leisten sie. (…) Alles, was du tust, das deine Beziehung zum Kind schwächt, schwächt im Grunde die Entwicklung des Kindes, weil es das Kind verunsichert. Und die meisten Psycholog*innen und Erziehungsexpert*innen werden dir raten: Time out. Du siehst, sie raten dir, die Beziehung zu dem Kind abzubrechen, um das als Drohmittel zu benutzen. Aber was hast du ihm damit beigebracht? Du hast ihm beigebracht, dass die Beziehung an Bedingungen geknüpft ist – dass du das Kind nur annimmst, wenn es dich zufriedenstellt. Das ist das genaue Gegenteil von dem, was jedes liebende Elternteil seinem Kind beibringen will. Das heißt, die Psychologie – die Erziehungspsychologie– ist in unserer Kultur zu etwas geworden, das sich gegen das Kind richtet.
Brian Rose Wenn wir von der Beziehung zu meinen Kindern sprechen – ist das größte Geschenk, das ich ihnen machen kann, dass sie lernen, Glück zu empfinden?
Gabor Maté Ja.
Brian Rose Und die ersten sieben Jahre sind sehr wichtig für ihre anderen Fähigkeiten? Gabor Maté Die ersten sieben Jahre sind tatsächlich entscheidend. Und ich würde sagen,
die ersten drei Jahre sind die absolute Basis. Ich sage den Leuten immer: Wenn ihr die ersten drei Jahre richtig hinbekommen habt, könnt ihr euch entspannen. Wenn ihr die ersten drei Jahre nicht richtig hinbekommt, habt ihr jahrzehntelang mit dem Reparieren eurer Erziehung zu tun.
Brian Rose Und wie sieht das aus, wenn man es vermasselt? Wie kann man das merken? Gabor Maté Zuerst einmal würdest du es so merken: Hier bin ich mit meinem Sohn –
und ich finde keine Ruhe. Ich weiß nicht, wie ich mit ihm sein soll. Ich weiß nicht, wie ich für ihn da sein soll. So war ich. Ich habe immer darauf gewartet, dass meine Kinder älter werden und ich mich mit ihnen intellektuell austauschen kann. Und dann würden wir etwas gemeinsam haben. Aber den puren Akt des Seins – oder den reinen Zustand des Seins – konnte ich mit ihnen nie erreichen.
Es ist interessant, wenn ich mir meine Brüder anschaue, dann sind die so wunderbar mit kleinen Kindern, sie sind so ganz natürlich für sie da. Ich wusste nie, wie das geht. Denn eine wirkliche Beziehung lebt nicht von Worten, sondern von der Fähigkeit, mit dem anderen zu sein.
Brian Rose Und sie spüren einfach diese von dir ausgehende Energie: Ich bin einfach nur hier mit dir …
Gabor Maté Ja.
Brian Rose … und ich bin hier.
Gabor Maté … und deine Präsenz ist mir willkommen. Ich wertschätze es, dass du in meiner Präsenz existierst, und ich bin überglücklich, dich bei mir zu haben. Das ist es, was ein Kind von dem Elternteil braucht.
Brian Rose Das wird über Körpersprache kommuniziert … mit allem. Gabor Maté Über die Energie, die von dir ausgeht.
Brian Rose Und das können sie fühlen.
Gabor Maté Das können sie wirklich fühlen. Sie können es nicht benennen, aber sie können es fühlen.
Brian Rose Und das beginnt schon, ihre Persönlichkeit zu verändern – genau an diesem Punkt.
Gabor Maté Das führt zu einer Verschiebung ihrer Persönlichkeit.
Brian Rose Du sagst immer, dass Mütter eine andere Art von Bindung aufbauen als Väter. Ist das einfach eine andere Art, ein Anachronismus?
Gabor Maté Mütter bauen eine andere Bindung auf – aber nur, weil sie mit ihren Kindern präsent sind. Während die Väter dazu neigen, ihre Kinder zu besuchen. Du weiß schon, typischerweise geht der Vater zur Arbeit, besucht dann für ein paar Stunden sein Zuhause und ist am nächsten Morgen wieder weg. Die Väter, die mit ihren Kindern zu Hause bleiben, lernen, ihre Kinder zu bemuttern. Das ist also keine Frage des Geschlechts, sondern der Beziehung. Die Mütter erlauben sich, von den Kindern zu lernen – dagegen neigen die Väter dazu, den Kindern die eigenen Erwartungen aufzubürden. Das ist keine universelle Tatsache, ich spreche jetzt allgemein.
Das heißt die Väter, die – wie in den zivilisierten Ländern – das Glück haben, Elternzeit zu bekommen, lernen, auf andere Art und Weise zu ihren Kindern in Beziehung zu gehen als der Durchschnittsvater andernorts. Wir können lernen – aber für das Lernen müssen wir auch anwesend sein. In unserer Kultur müssen Kinder sich binden. Sie müssen sich mit jemandem verbinden, weil sie ohne diese Verbindung nicht überleben. In den Jäger und Sammler-Horden, aus denen sich der Mensch entwickelt hat, gab es diese Bindungen mit den Erwachsenen – nicht nur mit einem oder zwei Erwachsenen, sondern mit einer ganzen Gruppe von erwachsenen Bezugspersonen.
In unserer Kultur dagegen haben wir den Kindern die Anwesenheit der Eltern größtenteils genommen. Das kindliche Gehirn kann das Fehlen von Bindung, das Fehlen einer Bindungsperson, nicht verarbeiten. Und bei Abwesenheit des Elternteils oder der erwachsenen Bezugsperson wird das Kind die entstandene Lücke mit der Peergroup füllen. Heute sind Kinder weit mehr an ihre Peergroups gebunden als gesund für sie wäre. Die Gleichaltrigen werden zu Vorbildern, zu Mentor*innen und zu Vorlagen, wie man ist, wie man geht und wie man spricht. Und wenn das passiert, reißen sich die Kinder von den Eltern los. Sie denken, dass sie mehr zu der Peergroup gehören – die andere Werte hat als die Eltern. Das kindliche
Gehirn kann mit dieser Art von Konkurrenz nicht umgehen und entscheidet sich für die Peergroup statt für die Eltern.
Wo das hinführt, sieht man auf Facebook und in den jugendlichen Gangs. Man sieht es auch in der wachsenden Frustration von Eltern, die die Erziehungsmacht verloren haben. Denn Eltern denken, dass ihre Macht von der Tatsache herrührt, dass sie die Verantwortung und die Stärke und die Weisheit haben – aber davon kommt sie nicht. Die Erziehungsmacht kommt von dem Verlangen des Kindes, zu dir zu gehören.
Wenn das Kind dazu getrieben wird, zu seiner Peergroup zu gehören, weil wir es aus seiner natürlichen Umgebung herausgenommen haben, verlieren wir die Erziehungsmacht. Was tun wir dann? Wir erhöhen den Druck, wir werden autoritärer. Wir verlieren die Autorität, also werden wir autoritärer. Und je autoritärer wir werden, je mehr Druck wir ausüben, desto mehr Widerstand leisten sie.
Und dann verpassen wir ihnen das Label Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten. Und wir bezeichnen sie als aufmüpfige, schlechte und freche Kinder. Alles was sie tun, ist, ihre Bindungsdynamiken auszuagieren! Das heißt, wenn wir Kinder erziehen wollen, müssen wir sie eigentlich zu unseren Jüngern machen. Und ein Jünger ist nicht jemand, der Angst vor dir hat. Ein Jünger ist jemand, der dich liebt und der zu dir gehören und dir folgen will. Das ist also eine Kunst, die das komplette Gegenteil von Bestrafung ist.
Zuallererst muss man erkennen, dass die wichtigste Vorlage – die essentielle Vorlage – für die emotionale Entwicklung des Kindes und auch für die gesunde physiologische Entwicklung des Gehirns der Aufbau und die Pflege einer Beziehung zu wechselseitig zugänglichen Erwachsenen ist. Das ist die Vorlage für die physiologische (…) und gesunde psychologische Entwicklung des Gehirns. Alles, was du tust, das deine Beziehung zum Kind schwächt, schwächt im Grunde die Entwicklung des Kindes, weil es das Kind verunsichert.
Kinder, die sich in einem Zustand von Unsicherheit befinden, sind im Kampf-oder-Flucht-Modus In diesem Modus lernen sie überhaupt nichts, sie beginnen nur, sich zu verteidigen. Jedes Mal also, wenn ich die Beziehung gegen das Kind einsetze … Sagen wir, ich habe einen Zweijährigen, der wütend ist – die meisten Psycholog*innen und Erziehungsexpert*innen werden dir raten: Time out. Du siehst, sie raten dir, die Beziehung zu dem Kind abzubrechen, um das als Drohmittel zu benutzen. Und diese Drohung bringt das Kind dazu, sich dir zu fügen. Also, eine Zeitlang fügt sich dir das Kind vielleicht, aber was hast du ihm damit beigebracht? Du hast ihm beigebracht, dass die Beziehung an Bedingungen geknüpft ist – dass du das Kind nur annimmst, wenn es dich zufriedenstellt. Außerdem hast du ihm beigebracht, dass Beziehungen unsicher und unverlässlich sind. Und das Kind hat gelernt, dass du nicht für es da bist, wenn es am meisten durcheinander ist. Denn warum agiert es etwas aus, warum rastet es aus? Weil es wegen irgendetwas frustriert ist, weil es wütend
ist, weil es unglücklich ist. Und du sagst ihm: Wenn du am unglücklichsten bist, bin ich am wenigsten für dich da.
Diese Art von Erziehung bringt man Eltern bei. Dazu kommt noch, dass man Eltern beibringt, ihre Kinder nicht auf den Arm zu nehmen, wenn diese weinen. Lass sie sich in den Schlaf weinen. Das ist einfach nur total fies! Welche Lektion lernt denn das Kind, das von dir nicht auf den Arm genommen wird? Seine Gefühle spielen keine Rolle – das ist die Lektion, die es lernt. Das ist das genaue Gegenteil von dem, was jedes liebende Elternteil seinem Kind beibringen will.
Das heißt, die Psychologie – die Erziehungspsychologie– ist in unserer Kultur zu etwas geworden, das sich gegen das Kind richtet.