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Von Geburt an kompetent!

Auszüge aus dem Beitrag im ‚Familienhandbuch’ von Elisabeth C. Gründler:

Jesper Juul geht davon aus, dass das Kind von Geburt an sozial und emotional ebenso kompetent ist, wie ein Erwachsener. Diese Kompetenz, die sich entsprechend der kindlichen Reife äußert, muss ihm nicht erst durch Erziehung, d.h. durch die Eltern oder durch Institutionen, beigebracht werden. Traditionelle Erziehung, so Juul, benutzt überwiegend verbale Strategien. Damit wird ignoriert, dass Kinder Verhalten durch Imitation lernen. Kinder müssen beobachten und experimentieren dürfen, dann fügen sie sich durch Nachahmung in die Kultur ein. So kooperieren Kinder. Ein ständiger Strom von Ermahnungen und Erklärungen bewirkt, dass das Kind sich dumm fühlt oder falsch. Auch wenn der Umgangston eher freundlich und verständnisvoll ist, wird dennoch die Botschaft gesendet: „Du bist nicht gut genug“. Damit wird dem Selbstbild und der Selbstachtung des Kindes großer Schaden zugefügt. Ein Kind kann sich dagegen nicht wehren.
Kinder sehen sich „in Beziehung“ zu anderen. Sie sind ursprünglich sozial. Von dieser Grundlage geht Juul bei seiner Arbeit aus. Berater, Lehrer und Erzieherinnen und viele Eltern gehen von der Annahme aus, dass Kinder noch keine vollständigen sozialen Wesen sind, und dass die Erwachsenen, die sozialen Kompetenzen ihnen erst beibringen müssen. Lehrplänen von Schulen und Erziehungskonzepte von Kindergärten dokumentieren diese Haltung.

Jedes auffällige Verhalten von Kindern und Jugendlichen, so Juul, kann man auf zwei Ursachen zurückführen: Entweder haben Erwachsene die kindliche Integrität verletzt oder die Kinder haben überkooperiert. Eltern und Experten konzentrieren sich regelmäßig auf das unangepasstes Verhalten. Juul plädiert dafür, Kindern auf eine andere Art und Weise zu begegnen. Sein Konzept ist, herauszufinden, ‘wer das Kind ist’ und nicht zu erklären, ‘warum es sich so verhält’. Dieses Vorgehen hält Juul für den einzigen Weg, eine tragfähige Beziehung zum Kind herzustellen. Juul hält es für unproduktiv und unethisch Verhalten zu klassifizieren, nach Symptomen zu ordnen und Syndrome und Störungen zu diagnostizieren, in der Annahme, dass bei exakter Diagnose eine Methode zur Behandlung abweichenden Verhaltens entwickelt werden kann. Auf diese Art und Weise würden nicht Menschen, sondern Symptome behandelt. Juul stellt nicht in Abrede, dass Kinder Symptome oder symptomatisches Verhalten zeigen. Er bestreitet auch nicht das Recht der Erwachsenen, Kinder an unsozialem Verhalten zu hindern! Doch er hält die Konzentration auf kindliche Defizite und Störungen für langfristig destruktiv.

Ein Beispiel

Der 12-jährige Björn kommt in die Sprechstunde der Schulkrankenschwester, um sein Gehör testen zu lassen. Die Krankenschwester findet, dass sein Gehör in Ordnung ist und fragt ihn, warum er den Eindruck habe, schlecht zu hören. „Wenn die Leute mit mir sprechen, werden ihre Stimmen sehr schnell langweilig“, antwortet der Junge. Die Krankenschwester kennt den familiären Hintergrund. Björns Vater ist psychisch krank, seine Mutter bemüht sich mit aller Kraft, die heile Fassade zu wahren und trägt diese Last allein. Ihrem Ältesten ist sie keine Gesprächspartnerin. Die Botschaft des 12-jährigen an die Krankenschwester ist: ‘Ich kann nicht zuhören, weil keiner mir zuhört’. Die traditionelle Reaktion wäre: „Dein Gehör ist in Ordnung. Ich werde Dich an einen Psychologen überweisen.“ Dies, so Jesper Juul, wird das Leid perpetuieren und die Familie zerstören. „Unser Glaube an die Spezialisten ist verrückt“, sagt er, „als Forscher sind sie wichtig, doch als Praktiker sind sie hilflos. Die Überweisung von Menschen mit Problemen an Spezialisten ist Zeit- und Geldverschwendung.“ Die Krankenschwester sollte den Jungen fragen: „Möchtest Du über etwas reden?“, und ihm zuhören.

Was Björn braucht ist das aufrichtige Interesse eines Menschen und echte Anteilnahme. Wenn die Krankenschwester ihm das geben könne, so Juul’s Erfahrung, dann brauche das Kind weder Gesprächstherapie noch fachliche Betreuung. Zweimal eine Stunde Gespräch und vielleicht noch sechs mal eine Viertelstunde innerhalb der nächsten zwei Jahre reichen aus, um den Jungen so zu stärken, dass er mit seiner Situation allein klar kommt. „Wir müssen den Kindern Worte geben, mit denen sie ihre Existenz ausdrücken können“, sagt Jesper Juul. „Sie brauchen keine Worte für ihre Probleme, sondern für das, was sie sind. Sie müssen ihr Sein in der Welt ausdrücken können.“

Grundlegende Gesprächs- und Beratungskompetenz

Herkömmliches Beraterverhalten, sagt Jesper Juul, führe zu Destruktion und zum Versagen der Institutionen: Nur einem Drittel der behandelten Klienten ginge es nach einer Intervention besser, bei einem weiteren Drittel sei das Verhalten unverändert, einem letzten Drittel ginge es sogar schlechter. „Wenn man alle auf einer Warteliste ließe, erzielt man das gleiche Ergebnis!“ – so sein Fazit. Das von Juul vor 20 Jahren mitbegründete Kempler-Institut of Scandinavia bildet keine Spezialisten aus. Es will denjenigen, die professionell mit Familien, Kindern und Jugendlichen arbeiten: Krankenschwestern, Ärzten, Lehrern und Sozialarbeitern eine grundlegende Gesprächs- und Beratungskompetenz vermitteln.

In herkömmlicher Therapie lernt der Klient eine professionelle Sprache, eine Art Jargon, mit dem er über sein Leid redet. Aber das bringt ihn nicht näher mit sich selbst in Kontakt und versetzt ihn nicht in die Lage, seine Probleme zu lösen. Daher bricht Jesper Juul mit der Grundregel, dem Klienten keine Lösung anzubieten.

„Man kann davon ausgehen, dass Menschen erst in die Beratung kommen, wenn sie schon alles ausprobiert haben, wozu sie aus eigener Kraft in der Lage sind.“ Oft sind sie in rigiden Alternativen gefangen. „Lass uns herausfinden, was Du stattdessen tun könntest“, ist die Haltung, die Juul als Berater einnimmt. Es geht darum, einen konkreten Satz zu finden, der ein authentischer Ausdruck der Situation ist. Dieser Satz darf seinen Adressaten weder verletzen noch beleidigen und soll beiden Partnern neues Verhalten ermöglichen. Er passt für nur den konkreten Fall. Standardsätze, die man als Rezept verwenden kann, gibt es nicht. Stimmt der Satz, d.h. bringt er das konkrete Sein des Klienten angemessen zum Ausdruck, dann ist eine authentische Gefühlsreaktion, meist Lachen oder Weinen, die Folge. Auch wenn die vorgeschlagene Lösung nicht angenommen wird, bringt die ernsthafte Auseinandersetzung mit ihr den Klienten einer Lösung näher.

Der Berater soll seine eigenen Werte deutlich machen, ohne jedoch das Verhalten des Klienten zu beurteilen. Die Grenze zwischen Gut und Böse muss deutlich sichtbar werden. Für Juul geht es um Wertewandel, der ein Teil des von uns allen erlebten kulturellen Umbruchs ist: „Wir müssen Kinder heute, in völlig anderer Weise, mit einer anderen Art von Anstrengung großziehen. Wir müssen mehr nach innen schauen, in uns selbst, statt ständig auf die Kinder. Das ist sehr schwierig, weil unsere Werte, die Kinder betreffen, verkrustet sind. Kinder haben in unserer Kultur an Achtung und Respekt verloren. Auch für die Erwachsenen ist das traditionelle Erziehungsverhalten schädlich. Es hält sie in einem Rollenschema fest und verhindert eigenes Wachstum. Die meisten Eltern und Erzieher wissen das intuitiv und fühlen sich unwohl, wenn sie versuchen, den Ratschlägen von Erziehungsfachleuten zu folgen. Sie spüren, dass die schematische Anwendung von Rezepten nicht stimmt.“

(Quelle: ‚Familienhandbuch’, Elisabeth C. Gründler)

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