Er schrieb die Bestseller “Babyjahre” und “Kinderjahre”. Anfang 2020 sprach der Schweizer Kinderarzt Remo Largo von “Förderwut”. Er sagte, dass heutige Eltern ihren Kindern das Gefühl geben, nicht zu genügen.
Interview von Susanne Kübler, Süddeutsche Zeitung
vom 5. Februar 2020
Quelle: Süddeutsche Zeitung
Mit freundlicher Genehmigung der Süddeutsche Zeitung
Jedes Kind ist anders: Darum ging es dem kürzlich verstorbenen Schweizer Kinderarzt und Entwicklungsforscher Remo Largo schon in seinem Bestseller “Babyjahre” vor 27 Jahren. Das Buch wurde mehr als eine Million Mal verkauft und hat Generationen von Eltern zu einem entspannten Umgang mit Kleinkindern und den eigenen Erwartungen ermutigt. Doch glaubt man dem Kinderarzt, ist von Entspannung in der modernen Erziehung nicht mehr viel zu spüren.
SZ: Herr Largo, Sie beobachten seit Jahrzehnten Kinder. Wie sehen Sie die heutigen?
Remo Largo: Viele tun mir leid.
Warum?
Weil sie in Strukturen aufwachsen, die ihnen nicht guttun – sozial, architektonisch, gesellschaftlich. Wenn sie eine Umgebung hätten, die ihren Bedürfnissen entspricht, würden sich viele Probleme von selbst erledigen.
Beginnen wir beim Sozialen: Was läuft dort falsch?
Kinder wissen sehr genau, wann sie welche Erfahrungen machen wollen. Wenn das nicht so wäre, wäre die Menschheit längst ausgestorben. Aber man traut ihnen heute nicht mehr zu, dass sie sich selber entwickeln wollen. Darum geraten viele Eltern und Lehrer in eine eigentliche Förderwut – statt dass sie eine selbstbestimmte Entwicklung zulassen.
Wir lenken zu viel?
Genau, das ist ein gutes Wort. Wir müssen uns doch fragen, wie wir uns unsere Kinder als Erwachsene wünschen würden. Da sind sich alle einig, dass sie gewisse Fähigkeiten und Fertigkeiten haben sollten, dass sie sich Wissen aneignen sollten. Aber genauso wichtig ist es, dass sie ein gutes Selbstwertgefühl entwickeln, eine gute Selbstwirksamkeit. Also dass sie sich mögen, so wie sie sind; dass sie daran glauben, ihr Leben zu meistern und in dieser Gesellschaft bestehen zu können. Wer ständig fremdbestimmt gefördert wird, kommt nie zu diesem Gefühl.
Was hieße denn Selbstbestimmung konkret?
Ein Beispiel: Ich gehe oft schwimmen, da sehe ich sehr unterschiedliche Dinge. Da kommt etwa ein Vater mit zwei Mädchen ins Schwimmbad, der lässt sie machen. Die toben dann herum und eignen sich ganz vieles an dabei, motorisch, aber auch sozial. Später kommt eine Schulklasse für den Schwimmunterricht. Die Schüler sitzen brav aufgereiht auf einem Bänklein, der Lehrer doziert zehn Minuten lang, und dann machen sie ganz eng geführt irgendetwas im Wasser. Wer hat nun mehr gelernt? Die beiden Mädchen oder die Schüler?
Das Prinzip wäre also: Loslassen.
So viel wie möglich, ja. Schauen Sie sich einen Dokumentarfilm über Afrika an, achten Sie darauf, was die Kinder tun: Die spielen miteinander. Natürlich vermitteln ihnen die Erwachsenen gewisse Fertigkeiten, auch soziale Regeln. Aber kompetent werden sie, indem die Größeren Verantwortung für die Kleineren übernehmen, indem die Kleineren die Größeren nachahmen. Ein Kind lernt so, sich in andere einzufühlen und hineinzudenken, es lernt, konfliktfähig zu werden und sich anzupassen, weil die anderen sonst nicht mit ihm spielen wollen. All dies können wir den Kindern nicht beibringen, diese Erfahrungen müssen sie selber machen.
Und das können sie hier nicht mehr?
Viel zu wenig, aus verschiedenen Gründen. Bei uns sind Kleinfamilien der Normalfall – und diese Familien sind vor allem in den Städten nicht mehr in eine Gemeinschaft integriert. Die Schule ist darauf ausgerichtet, Fertigkeiten auszubilden, statt Erfahrungen zu ermöglichen. Und sogar in der Freizeit haben Kinder und Jugendliche immer einen Auftrag zu erfüllen, eine Leistung zu bringen: im Sportverein, im Musikunterricht. Herumhängen ist verpönt, dabei wäre es wichtig.
Wie kommt es denn, dass Eltern, die so aufgewachsen sind, dies ihren Kindern nicht mehr ermöglichen?
Das hat sehr viel mit existenziellen Ängsten zu tun. Heute ist trotz größtem Wohlstand untergründig immer die Angst da, dass man den Job verlieren könnte. Das gilt quer durch alle Schichten. Und es überträgt sich auf die Kinder: Die Eltern wollen sie möglichst gut vorbereiten auf das, was sie erwartet.
Ein verständlicher Wunsch.
Klar. Aber gut gemeint muss nicht auch richtig sein. So lernen die Kinder nur zu reproduzieren, was ihnen eingetrichtert worden ist. Wirklich kompetent werden sie nur, wenn sie selbstbestimmt Erfahrungen machen.
Und wenn sie dann selbstbestimmt gamen?
Bösartige Frage zurück: Vielleicht gamen sie so gern, weil sie es selbstbestimmt tun können? Ernsthaft: Die Frage ist doch, haben die Kinder Alternativen oder nicht? Wenn sie die Möglichkeit haben, mit anderen zu spielen, relativiert sich das Problem. Aber dafür müsste man umdenken. Also die Kinder nicht verplanen, sie nicht von zwei bis vier ins Ballett schicken, sondern Freiräume schaffen.
Das ist nun auch architektonisch gemeint?
Natürlich. Wir bauen so, dass man die Kinder selbst dann nicht einfach rauslassen kann, wenn man das möchte. Oder so, dass sie gar keine Lust haben rauszugehen: Bei den Spielplätzen ist heute das Wichtigste, dass sie versicherungstechnisch ungefährlich sind. Kürzlich war ich auf einem mit zwei Enkeln: Nach zwanzig Minuten hatten sie alles durch.
Das klingt alles sehr düster. Beobachten Sie auch irgendwo positive Entwicklungen?
Sie bringen mich in Verlegenheit … Sehe ich zu schwarz?
Ich sehe jedenfalls durchaus Kinder, die im Viertel herumrennen. Auch viele Eltern, die sich überambitionierten Freizeitprogrammen entziehen. Und ich sehe Lehrerinnen und Lehrer, die sich auf die Kinder einlassen, individuelle Programme zusammenstellen, Eigeninitiativen unterstützen.
Das mag sein. Aber es sind immer kleine Ausschnitte des Ganzen. Man hat Glück mit einer Lehrerin, oder es gibt gerade eine gute Konstellation in der Nachbarschaft. Die Regel ist das nicht. Die sieht man zum Beispiel in der letzten Pisa-Studie (in der Schweiz; Anm. d. Red.): Da zeigt sich, dass ein Sechstel der 15-Jährigen die Lesekompetenz von Viert- oder Fünftklässlern hat, oder sogar ein Fünftel . Ähnlich viele haben Mühe mit dem Rechnen. Diese Kinder machen jeden Tag die Erfahrung: Ich bin ein Versager. Sie haben keine Chance, ein gutes Selbstwertgefühl zu entwickeln.
Wie kann man das ändern?
Eltern und Lehrer sollten akzeptieren, dass Kinder sehr unterschiedlich begabt sind. Jedes Kind will lernen, aber in seinem Entwicklungstempo und auf seine Weise. Es gibt alternative Schulen, in denen die Lehrer vor allem Ansprechpersonen sind; die Kinder bestimmen selbst, was und wie sie lernen wollen. Es ist erstaunlich, was da passiert.
Aber ist der normale Schulbetrieb wirklich nur beengend? Es passiert doch auch dort viel, gerade wenn die Kinder starke Beziehungen haben zu den Lehrpersonen.
Die Beziehung zwischen Lehrer und Kind ist tatsächlich der wichtigste Faktor für den Lernerfolg, das hat die großangelegte Hattie-Studie ergeben. Darum ist es auch nicht gut, dass die Kinder in der Volksschule so viele verschiedene Fachlehrkräfte haben. Aber es stimmt, ich kenne auch dort nicht wenige Lehrer, die auf gute Weise tun, was sie für richtig halten, und sich foutieren (hinwegsetzen) um die normierten Lehrpläne. Allerdings müssen auch sie Noten geben und die Kinder irgendwie einordnen. Dabei weiß man, dass das nichts bringt.
Außer dass es einen vorbereitet auf ein Leben, in dem man auch nach der Schule ständig beurteilt wird.
Das ist der Punkt. Es geht bei allen diesen Fragen nicht darum, da und dort zu drehen. Das ist unter den aktuellen Bedingungen tatsächlich schwierig. Wir müssen unsere Gesellschaft grundsätzlich verändern: hin zur Gemeinschaft.
Wenn man trotzdem im Kleinen anfangen möchte: Was wäre zu tun?
Wichtig wäre, dafür zu sorgen, dass die Kinder mehr mit anderen zusammen sein können. Vielleicht reicht es, einen Brief im Viertel herumzuschicken, um gleichgesinnte Eltern zu finden. So aufwendig wäre das nicht.
Remo Largo ist am 12.11.2020 verstorben.
Interview von Susanne Kübler, Süddeutsche Zeitung
vom 5. Februar 2020
Mit freundlicher Genehmigung der Süddeutsche Zeitung