Ärger frisst Lebensfreude – von Dr. Nicole Wilhelm
Wenn wir abends im Bett den Tag Revue passieren lassen, stellen wir oft fest, wie sehr wir uns geärgert haben: über unser Kind, weil es nicht so mitgemacht hat, wie wir es uns gewünscht haben, über unseren Lebenspartner oder unsere Lebenspartnerin, über Menschen an der Supermarktkasse oder im Straßenverkehr - oder über uns selbst. Kann man sich auch weniger ärgern, das Leben mehr feiern und die Menschen darin mehr genießen?
Eine Mutter hatte einen langen Arbeitstag, holt die Kinder (drei und fünf Jahre alt) von der Kita ab, schafft den Nachhauseweg, hält durch bis die Kinder im Bett sind und sackt dann auf
dem Sofa zusammen – voller Selbstvorwürfe, weil sie ihre Töchter wieder einmal angeschrien hat. Als der Vater nach Hause kommt, fragt er gut gelaunt: „Gibt’s was Leckeres zu essen?“ Die Mutter schnauzt ihn an: „Wie soll ich das denn auch noch schaffen?“ „Ist ja gut, war ja nur ne Frage…“ „Nein, wenn ich lange arbeite, kochst du auch nichts…“ und so geht es noch eine Weile weiter, bis sich beide voller Ärger anschweigen. Ist doch normal, dass man sich da ärgert – oder?
Oft rührt unser Ärger daher, dass wir denken: Er oder sie hätte sich anders verhalten sollen (mich zum Beispiel mit mehr Respekt behandeln), oder ich hätte mich anders verhalten sollen (zum Beispiel die Kinder nicht anschreien). Doch das ist ein Ding der Unmöglichkeit: Kein Mensch konnte sich zu einem bestimmten Zeitpunkt anders verhalten, als er sich verhalten hat. Alles ist bereits geschehen, dass wir uns genau so verhalten, wie wir es tun: Genetik, Epigenetik, frühkindliche psychosoziale Prozesse, alle Erfahrung, die wir gemacht haben… all das hat unser Gehirn herausgebildet und lässt uns jetzt auf genau diese Weise handeln.
„Das hättest du nicht tun sollen“ oder „Wieso habe ich das bloß gemacht?“ - müßig darüber nachzudenken – denn wir alle können nicht aus unserer Haut. Um sich anders verhalten zu können, bräuchten wir einen anderen, alternativen Gehirnzustand, doch wir haben ja nur ein einziges Gehirn – das in genau diesem Moment so ist, wie es eben ist – und uns so handeln lässt, wie wir handeln. Natürlich sind wir vollumfänglich verantwortlich für diese Handlung, schließlich sind wir es, die so gehandelt haben. Doch uns oder anderen diese Handlungen vorzuwerfen, ist fatal und führt zu überflüssigem Ärger – denn wir konnten nicht anders handeln.
Wir alle kennen Situationen, mit denen wir nicht auf YouTube auftauchen wollen. Sie sind uns peinlich und wenn wir gekonnt hätten, hätten wir uns nicht so verhalten. Wir haben geschrien, getobt, waren ungerecht… Die Liste der Situationen, in denen wir uns nicht so verhalten haben, wie wir es eigentlich wollen, ist bei den allermeisten Menschen lang.
Wenn wir anerkennen, dass jeder Mensch sein Bestes tut – im Rahmen der Möglichkeiten, die er mitbekommen hat – und es gut machen will, dass wir alle in Frieden kommen und ein freundliches Miteinander anstreben, dann macht das unser Zusammenleben viel freundlicher. Weg vom (Selbst-)Vorwurf hin zur Zukunft:
Anstatt uns also darüber zu ärgern, wie wir oder andere gehandelt haben, können wir uns auch mit der Zukunft beschäftigen: Was wünschen wir uns? Und was können wir dazu beitragen, dass es so wird, wie wir es uns wünschen? Wenn ich mein Kind angeschrieben habe, kann ich sagen: „Es tut mir leid, dass ich dich angeschrien habe, das wollte ich nicht. Ich war so angestrengt und habe gar nicht gemerkt, dass ich eigentlich eine Pause gebraucht hätte.“
Und dann könnte ich mich damit beschäftigen, wie ich früher merken kann, dass ich in den roten Bereich rutsche und auch, was ich dann tun kann – bevor ich anfange zu schreien.
Und wie anders wäre das Gespräch zwischen den Eltern verlaufen, wenn die Mutter zum Beispiel gesagt hätte: „Wenn du mich fragst, ob es was Leckeres zu essen gibt, habe ich das Gefühl, du erwartest, dass ich was gekocht habe. Dann fühle ich mich nicht gesehen von dir“. Oder wenn der Vater gesagt hätte: „Tut mir leid! Ich habe nur an meinen Hunger gedacht und gar nicht gesehen, was du heute schon alles geleistet hast.“ Sie hätten einander in den Arm nehmen und schauen können, was jeder braucht, damit es allen in der Familie gut geht, und gemeinsam Dinge verändern können.
Aber tut wirklich jeder Mensch sein Bestes, auch Eltern, die ihre Kinder schlagen? Ein Vater schlägt, immer wenn er nicht weiter weiß, seinen siebenjährigen Sohn, der seinerseits angefangen hat, in der Schule Kinder zu schlagen. Jeder Mensch, auch dieser Vater, tut sein Bestes! Wir alle haben
Anteile in unserem Verhalten, die destruktiv sind und anderen oder uns selbst nicht guttun. Dieses Verhalten haben wir gelernt, als wir selbst Kinder waren. So wie wir unsere Muttersprache lernen, lernen wir auch Verhalten – wir ahmen es einfach nach. Wenn Menschen schädigendes Verhalten zeigen, dann weil sie ein solches Verhalten selbst erlebt haben. Es ist eine Lernleistung – und wir können jederzeit Neues lernen. Besonders gut können wir Neues lernen, wenn wir uns in einem freundlichen Klima befinden, wenn wir freundliche und wohl gemeinte Rückmeldungen erfahren, wenn wir spüren können: Mein Gegenüber glaubt an meine gute Absicht und erkennt an, dass ich es so gut mache, wie ich es kann, auch wenn mir einiges noch nicht besser gelingt.
Wenn wir in dieser Haltung dem Vater begegnen, der seinen Sohn schlägt, dann wird es ihm viel leichter fallen, neue Verhaltensweisen zu lernen, als wenn wir ihn dafür verurteilen. Denn Schuld und Scham verhindern, dass wir uns gut entwickeln können. Eine freundliche Handreichung dagegen könnte ihm helfen, aus dem eigenen Empfinden von Schuld und Scham herauszukommen und neue Wege zu suchen.
Was hätte es für Auswirkungen, wenn wir glauben könnten, dass jeder Mensch sein Bestes tut und in freundlicher Absicht kommt? Wir würden uns weniger ärgern: In einer Fortbildung haben wir darüber gesprochen, dass jeder Mensch sein Bestes tut – auch wenn er sich schädigend verhält oder Fehler macht. Am zweiten Fortbildungstag kam eine Fachkraft strahlend in die Runde und erzählte von ihrer Erfahrung: Ein Autofahrer hatte sie auf der Autobahn geschnitten und normalerweise hätte sie sich sehr geärgert. Doch jetzt hatte sie einfach gedacht: „Er kann nicht anders“ und das hat sie sehr entspannt.
Wenn wir anerkennen, dass jeder Mensch sein Bestes tut, können wir viel Ärger hinter uns lassen und uns selbst und einander freundlicher begegnen. Frieden breitet sich aus und gibt uns mehr Raum zu schauen, was wir verändern wollen, wie wir unser Miteinander so gestalten wollen, dass sich jeder Mensch wohl, willkommen und wertvoll fühlt – auch mit all seinen Fehlern.
Bücher zur Willensfreiheit:
Pauen, Michael: Illusion Freiheit?, Fischer Verlag
Roth, Gerhard: Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten, Klett-Cotta Verlag
Schmidt-Salomon, Michael: Jenseits von Gut und Böse, Piper Verlag
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