Psychoanalytiker Prof. Dr. Arno Grün

Der Züricher Psychoanalytiker Prof. Dr. Arno Grün beschreibt in seinem Vortrag »Konsequenzen des Gehorsams« Die Konsequenzen des Gehorsams für die Entwicklung von Identität und Kreativität (Quelle: Vortrag bei den 53. Lindauer Psychotherapiewochen am 12. April 2003)

»Der Ursprung des Gehorsams ist also in den Prozessen zu suchen, der das Eigene zum Fremden macht. Mit dem Gehorsam geben wir unsere eigenen Gefühle und Wahrnehmungen auf. Wird ein Mensch im Verlauf seiner Identitätsentwicklung einmal in diese Richtung gezwungen, verläuft seine Entwicklung nach Gesetzen, die völlig anders sind als die, die das heute gängige psychologische Denken vorgibt. Das Festklammern an der Autorität wird dann zu einem Lebensgrundsatz. Obwohl man sie hasst, identifiziert man sich mit ihr. Die Unterdrückung des Eigenen löst Hass und auch Aggressionen aus, die sich aber nicht gegen den Unterdrücker richten dürfen, sondern an andere Opfer weitergegeben werden. Typisch für diese Entwicklung ist immer, dass das eigene Opfersein verleugnet wird. Denn der eigene Schmerz und das eigene Leid waren ja einmal Bestandteil dessen, was uns wertlos machte. So wird Opfersein zur unbewussten Basis für das Tätersein. Gleichzeitig wird der Gehorsam zur gesellschaftlichen Institution, mit der diese Krankheit, von der wir alle zu einem gewissen Grad betroffen sind, die wir aber nicht als Krankheit erkennen, weitergegeben. Diese pathologische Treue ist nicht nur ein Kennzeichen der Deutschen. Sie ist überall da zu finden, wo Gehorsam Kinder dazu zwingt, sich selbst und ihr Erleben zu verleugnen.

Zwei Forschungsprojekte, die sich dem Thema der Autonomieentwicklung widmeten, haben gezeigt, dass die Weichen zum Menschlichsein oder zur Entfremdung schon früh gestellt werden. Helen Bluvol und Ann Roskam führten Studien (beide 1972) an einem amerikanischen Gymnasium durch. Sie untersuchten zwei Gruppen von Schülern – eine, die äußerst erfolgreich war, sich gehorsam den Ambitionen der Eltern anpasste, und eine andere, deren Leistungen zwar als genügend eingestuft werden konnte, die aber kein großes Interesse an Erfolg zeigten und keinem Druck zum Gehorsam, den Erwartungen der Eltern zu entsprechen, ausgesetzt waren. Die erste Gruppe zeichnete sich durch ein starkes Bedürfnis nach Bestätigung aus. Diese Schüler reagierten mit Angst, wenn sie den Eindruck hatten, von gängigen Verhaltensnormen abzuweichen. Diese Gruppe war auch unfähig, die Eltern als eigenständige, differenzierte Menschen wahrzunehmen. Die Schüler neigten dazu, nicht nur die Eltern, sondern auch andere Autoritätspersonen wie ihre Lehrer zu idealisieren. Die Gruppe der wenig erfolgsorientierten Schüler dagegen beschreibt die Eltern als reale Persönlichkeiten mit guten und schlechten Seiten. Idealisierungen waren ihnen fremd.

Bluvol und Roskam fanden noch etwas heraus: Die erfolgsorientierten Schüler, die ihre Eltern idealisierten, hatten eine starke Tendenz, ihre Mitschüler zu Unterlegenen zu machen. Nur dann empfanden sie sich als “autonom”. Hier sehen wir die Auswirkungen des Gehorsams. Die Gruppe, die sich im Hinblick auf Erfolg und allgemeines “Wohlverhalten” den allgemeinen Normen unterordnete und somit am stärksten im System elterlich autoritärer Erwartungen gefangen war, fühlte sich unabhängig – und zwar dann, wenn sie andere niedermachen konnte. Das heißt: Wir erleben das Gefühl von Freiheit und Autonomie, wenn wir das Fremde im andern – und damit in uns selbst – bestrafen.

So kommt es zu zwei problematischen Fehlentwicklungen. Erstens: Im Falle der gehorsamen Leistungsorientierten wird Ehrgeiz verknüpft mit dem Prozess der Entfremdung. Ehrgeiz als ein “mit sich selbst ringen” kann auch zum Transzendieren eigener Möglichkeiten führen. Wenn er jedoch auf die Bestätigung für gehorsames Verhalten abzielt, ist er ein Resultat der Entfremdung. Zweitens: “Autonomie” kehrt sich bei dieser Entwicklung in eine Perversion um und bringt eine Verzerrung der Gefühlslage mit sich. Einen andern zu beherrschen und runterzumachen vermittelt dabei ein Gefühl des Freiseins, weil es von der Last des eigenen Opferseins befreit.

Wenn wir zum Gehorsam erzogen werden, ist der Fremde in uns das eigentliche Opfer unseres Selbst. Dieses Selbst wird verzerrt durch den Gehorsam, der es unmöglich macht, die Wahrheit des ganzen Vorgangs zu erkennen. Gehorsam, könnte man sagen, dient nicht nur dazu, sich dem Unterdrücker unterzuordnen, sondern auch seine Taten zu verschleiern. Mit anderen Worten: Gehorsam untermauert Macht. Er macht es unmöglich, die angestaute Wut gegen jene zu richten, die für sie verantwortlich sind. Die Wut jedoch ist da, genauso wie der Hass auf das eigene Opfer, das man als fremd von sich weisen muss, um sich mit den Mächtigen zu arrangieren.«

»Die “Sprache des Herzens” ist unsere einzige Chance. Wer als Kind echte Zuwendung erfährt – und sei es unter ärmsten Verhältnissen -, verfügt später über die Stärke, auch seinen Mitmenschen und Kindern mit Empathie und Mitgefühl zu begegnen. Dann bleiben sie Menschen, die keine Angst davor haben, auf das zu hören, was ihr Herz ihnen sagt. Mit einer eigenen Identität als Kern der Persönlichkeit und nicht dem, was der englische Dichter Edward Young schon im 18. Jahrhundert befürchtete: Wir werden als Originale geboren, aber sterben als Kopien.«

Weiter sagt Arno Gruen, warum es so wichtig ist, zur eigenen Wahrheit zu finden: “Wird einem kleinem Menschen der Willen eines übermächtigen Erwachsenen aufgezwungen, macht er automatisch das Fremde zum Eigenen und wird sich dadurch fremd. Statt eine eigene Identität zu entwickeln oder sein Selbst zu entdecken, muss er Gefühle und Wahrnehmungen aufgeben, einfach aus panischer Angst davor, die Verbindung zu den Eltern zu verlieren. Wird ein Kind einmal in diese Richtung gezwungen, klammert es sich unter Umständen sein Leben lang an Autoritäten. Die Unterdrückung alles Eigenen löst Hass und Aggressionen aus, die sich nie gegen den Unterdrücker richten, sondern meistens andere Opfer suchen.”

Arno Grün im Interview „Wahnsinn Normalität“
– Voraussetzungen für Autoritätsgläubigkeit
– Vielfachen Mangel an Mitgefühl
– Wie können wir die Demokratie bewahren?

Hören Sie das Interview mit Arno Grün

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Konsequenzen des Gehorsams« von Prof. Dr. Arno Gruen

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