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Hilfe, ich schaff’s nicht mehr mit meinem Kind!

Heute gibt es ein großes Interesse bessere Wege zu finden um mit scheinbar unerreichbaren Kindern, Schülern, Auszubildenden umzugehen. Weder die „Erziehung zum Gehorsam“ noch die sogenannte „freie Erziehung“ haben die gewünschten Ergebnisse erbracht. Im Gegenteil: Experten sprechen von „Tyrannen“ und „loben die Disziplin“. Eltern wissen, dass sie mit dieser Sprache ihre Kinder nicht erreichen.
Es gibt Unterstützung für Eltern und andere Erwachsene die mit Kindern/Jugendlichen zusammen
arbeiten. Der europaweit anerkannte Familientherapeut Jesper Juul und die erfahrene Psychologin
Helle Jensen haben hierzu in ihren Büchern hilfreiche, gangbare Wege aufgezeigt. Seit mehr als
dreißig Jahren haben beide praktische Erfahrung und wissenschaftliche Erkenntnisse verbunden und zeigen auf, wie eine zeitgemäße Erziehung/Beziehung in der Familie aussehen kann. Auszüge finden Sie hier auf unserer Webseite. Viele von Jesper Juul weiter gebildete familylab SeminarleiterInnen bieten Eltern-Kurse in ganz Deutschland an und können persönliche Beratung
leisten.
Ich wünsche Ihnen gutes Gelingen

Mathias Voelchert
Leiter familylab.de

»Was du willst, das sollst du auch bekommen«

Von Jesper Juul Auszug aus »Die kompetente Familie« Beltz Verlag
In den letzten zehn Jahren hat der Begriff der »Kleinen Tyrannen« mehr und mehr Verbreitung gefunden. Zwar haben viele Experten darauf hingewiesen, dass die Kinder an diesem Phänomen keine Schuld trifft, doch kursieren immer noch Bezeichnungen, die Kindern die Verantwortung für ein Verhalten in die Schuhe schieben wollen, das einzig und allein die Erwachsenen zu verantworten haben.
Die sogenannten Kleinen Tyrannen stellen unentwegt Forderungen, sind permanent unzufrieden und drängen sich immer und überall in den Mittelpunkt. Man kann nicht anders, als sich von ihnen tyrannisiert zu fühlen. Sie lassen jegliche soziale Kompetenz vermissen, sind egozentrisch und ohne jedes Fingerspitzengefühl.
So wie jedes andere destruktive Verhalten ist auch dieses Verhalten ein Symptom für eine familiäre Fehlentwicklung – ein sehr ernst zu nehmendes Symptom! Entwickelt es sich über das fünfte, sechste Lebensjahr hinaus, ist wirklich Gefahr im Verzug.

Grenzen der Demokratie

Wir begegnen solchen Kindern oft als Mitglieder ansonsten völlig intakter Familien, in denen die Eltern
sich ihrer Erziehungsaufgabe sehr wohl bewusst sind und viel über sie nachgedacht haben.
Generell lässt sich sagen, dass die Ursache für diese Erscheinung in der unglückseligen Tendenz
begründet liegt, komplexe Probleme zu vereinfachen. Das geschieht häufig, wenn sich in der
Gesellschaft allmählich eine neue Überzeugung durchsetzt oder wenn Fachleute neue Erkenntnisse
veröffentlichen.
In den letzten 30 Jahren hat sich beispielsweise folgende Ansicht verbreitet: Kinder haben das Recht auf eine Erklärung! Diese Parole wurde von einer Generation ausgegeben, die größtenteils nach dem Prinzip Befehl und Gehorsam erzogen wurde und berechtigterweise eine Begründung dieser Erziehung vermisste. Es war also eine gut gemeinte Idee, die leider wie viele gut gemeinte Ideen vereinfacht wurde. Das Resultat zeigte sich 20 Jahre später in Gestalt einer Horde von Kindern, die geradezu süchtig nach Erklärungen sind. Ganz gleich, was man zu ihnen sagt, so fragen sie stets nach dem Warum, und man kann fast gewiss sein, dass sie die Antwort gar nicht interessiert oder sie diese gegen denjenigen verwenden, der ihnen antwortet. Dieses Prinzip wurde ebenso von den Erwachsenen missbraucht, die Kinder unter dem Vorwand der Erklärung oft genug manipuliert und verführt haben.
Eine ähnliche Haltung liegt auch dem Phänomen zugrunde, mit dem sich dieses Kapitel beschäftigt –
eine generell positive und entgegenkommende Haltung, die Kindern einen Einfluss auf ihre eigene
Situation zubilligt. Kinder sollen zu nichts gezwungen werden und Eltern keine Diktatoren sein – und
wehe dem, der dabei Böses denkt!
Das Problem ist nur, dass sich zuweilen das krasse Gegenteil einstellt: Kinder als Diktatoren, die den
Erwachsenen quasi ihr Mitbestimmungsrecht verwehren. Auch für diese Form der umgekehrten
Polarisierung gibt es historische Vorbilder. Als man in den Dreißigerjahren herausfand, dass Kinder,
die ständig von ihren Eltern (und anderen Erwachsenen) kritisiert wurden, ihr Selbstvertrauen
verloren, folgerte man daraus, dass man es mit dem Gegenteil versuchen müsse: Kinder sollten nun
gelobt werden! Doch übersah man bei allem Eifer, dass das Selbstvertrauen von Kindern unter Lob
genauso leiden kann wie unter Kritik. In der Diskussion über die richtige Erziehung besteht eine alte
Tradition, in Gegensätzen statt in Alternativen zu denken. Als gäbe es auf der gesamten Farbskala nur
schwarz und weiß.

Ein Beispiel

Kürzlich hatte ich das Vergnügen, mit einer Familie zu sprechen, in der sich ein sogenanntes
Tyrannisches Kind befand. Es handelte sich um die zweieinhalbjährige Tochter, die ihrer Familie jede
Luft zum Atmen nahm. Der deutlichste Beleg hierfür waren die Frühstücke, bei denen ihr 13
verschiedene Nahrungsmittel zur Verfügung standen. Doch die Tochter wollte keines von ihnen.
Vermutlich hätte sie lieber 14 verschiedene Sorten zur Auswahl gehabt!
Ein ähnliches Drama spielte sich bei den übrigen Mahlzeiten und anlässlich vieler anderer Situationen
ab. Die Eltern verfügten beide über eine gute Ausbildung und hatten sich Gott sei Dank ihren Humor
bewahrt, doch erkannten sie sehr genau, dass die Verhältnisse untragbar geworden waren. Sie waren
überzeugte Demokraten und vertraten die Überzeugung, dass Kinder genauso behandelt werden
müssten wie alle anderen Menschen auch. Da sie finanziell abgesichert waren und über große
emotionale Reserven verfügten, waren sie von Anfang an fest entschlossen gewesen, es ihrer Tochter
an nichts fehlen zu lassen.

Kinder kooperieren

Viele Artikel und Kurse von familylab beschäftigen sich mit der Fähigkeit und dem Willen der Kinder
zur Zusammenarbeit. Dass Kinder kooperieren, bedeutet, dass sie das innere und äußere Verhalten
der Erwachsenen nachahmen. Diese Nachahmung kann jedoch exakt oder spiegelverkehrt geschehen.
Ein Kind, das mit täglicher Gewalt aufwächst, kann dieses Verhalten dadurch nachahmen, dass sich
seine Gewalt ebenfalls nach außen richtet. Es kann die Gewalt aber auch spiegelverkehrt nachahmen,
also nach innen richten und selbstdestruktiv werden.
Schließlich kann die Zusammenarbeit auch »klassischen« Charakter haben, indem das Verhalten des
Kindes den Eltern sehr direkt vermittelt, was sie falsch machen und wie sie sich stattdessen verhalten
sollen. Letzteres gilt für die Kinder, deren Eltern sich von ihnen tyrannisieren lassen. In die Sprache
der Erwachsenen übersetzt, äußern sie sich in etwa so:

»Ich weiß, dass ihr nur mein Bestes wollt und darauf aus seid, dass ich glücklich und zufrieden bin.
Doch ihr gebt mir das Falsche, deshalb bin ich immerzu fordernd und unzufrieden. Nicht weil ich zu
viel des »Guten« und nicht genug bekomme, sondern weil ich zu viel des »Falschen« bekomme. In
meinem Alter weiß man noch nicht, was gut oder schlecht für einen ist – zumindest nicht auf eine Art
und Weise, über die man sprechen könnte. Mein Organismus weiß dies jedoch, deshalb bin ich
glücklich und zufrieden, wenn ich das bekomme, was gut für mich ist, und unzufrieden, wenn ich das
bekomme, was schlecht für mich ist. Doch mein Bewusstsein weiß davon nichts. Ich kann nur
unwillkürlich reagieren und darauf hoffen, dass ihr euch bewusst macht, was schief zwischen uns
läuft.«
Kinder können einen selbstbestimmten konstruktiven Beitrag erst leisten, wenn sie »Ja, ich will« oder
»Nein, ich will nicht« sagen können, also in einem Alter von 2½ - 3 Jahren, einer Phase, die eigentlich
»Selbstständigkeitsalter« heißen sollte. Bis dahin sind sie weitestgehend darauf angewiesen, dass die
Eltern ihre Signale mit Empathie deuten und die richtigen Entscheidungen für sie treffen.
Das bedeutet nicht, dass man die positiven und negativen Signale von Kindern in diesem Alter
übersehen oder überhören sollte, doch sollen sie uns nur den Weg weisen, nicht die Entscheidung
abnehmen. Kinder haben beispielsweise ein sehr unterschiedliches Schlafbedürfnis, das man erst
allmählich kennenlernt. Kinder unter drei Jahren wissen bewusst noch recht wenig davon, was gut für
sie ist. Darum sind sie in diesem Alter auch so extrem verletzlich, und daher tut man ihnen auch
keinen Gefallen, wenn ihr Verhältnis zu den Eltern quasi demokratischen Charakter trägt. Kinder
dieses Alters wissen immer blitzschnell, worauf sie gerade Lust haben. Darum besteht die Kunst der
Eltern in dieser Phase u.a. darin, ihnen das, was sie brauchen, auf eine Art und Weise zu geben, die
auch ihre momentane Lust befriedigt. Eltern müssen sich also Gedanken darüber machen, was ihre
Kinder wirklich brauchen, und als Ergebnis einen Rahmen vereinbaren und bestimmte Grenzen setzen.
Um auf das Frühstücksbeispiel zurückzukommen, so müssen die Eltern herausfinden, was gut für das
Kind ist (die Qualität und den Nährwert des Essens beurteilen), und danach eine Zeit lang
experimentieren. Zum einen müssen sie natürlich die Reaktionen des kindlichen Organismus im Blick
haben: Funktioniert die Verdauung? Gib es Anzeichen für eine Allergie. Kurz gesagt: Reagiert der
Organismus so, als werde er gut versorgt?
Will man seinem Kind darüber hinaus eine gewisse Wahlmöglichkeit geben, damit es nicht jeden Tag
dasselbe essen muss, dann ist dagegen nichts einzuwenden, doch begrenzen sie die Auswahl auf
einige wenige Lebensmittel. Wenn das Kind eines Morgens keinen Brei mehr essen mag, können sie
ihm Joghurt anbieten. Wenn es auch den Joghurt verweigert, ist das kein Grund zur Besorgnis. Dann
könnten sie sagen: »Es tut mir Leid, aber etwas anderes als Joghurt haben wir nicht.« Kein Kind ist je
gestorben, nur weil es ein paar Tage lang nicht gefrühstückt hat. Doch denken Sie stets daran: keine
Vorwürfe, keine Drohungen und keine honigsüße Manipulation. Falls Eltern damit anfangen, werden
die Kinder sie unwillkürlich nachahmen (kooperieren).
Das ist eines des Dinge, die man von Familien lernen kann, deren finanzielle Situation eine größere
Auswahl an Lebensmitteln einfach nicht zulässt. Wenn man diesen Kindern nicht vorwirft, dass sie
vielleicht mehr Lust auf Joghurt als auf Cornflakes haben, dann kooperieren sie und essen ihre
Cornflakes, ohne zu klagen. Das Wichtigste ist wie immer die psychologische Nahrung, die sie von der
Familie empfangen.

Was tun, wenn der Schaden bereits eingetreten ist?

Falls der Schaden bereits eingetreten ist, wird es Zeit, die Normen zu überprüfen, die in der Familie
beherzigt werden sollen. Danach muss man damit beginnen, neue Grenzen zu setzen.
Was die Frage der Grenzen angeht, will ich an dieser Stelle nur unterstreichen, dass es stets darum
geht, sich persönlich zu äußern (»Ich will« oder »Ich will nicht«), herzlich zu sein (zu seinen Gefühlen
zu stehen, ohne dem Kind die Schuld dafür zu geben) und das Kind nicht zu kritisieren, und zwar
weder direkt noch indirekt. Wenn das Kind die Grenzen der Eltern missachtet, haben dies die Eltern zu
verantworten. Das Kind trifft daran keine Schuld. Falls sich entgegen bester Absichten doch ein
sogenanntes Tyrannisches Kind in der Familie entwickelt hat, wird man um zwei bis drei Jahre harte
Arbeit nicht herumkommen – mindestens! Dies ist ein kräftezehrender Prozess, in dessen Verlauf es
schwerfällt, seine Schuldgefühle nicht auf das Kind abzuwälzen oder selbst in ihnen zu ertrinken.
Daher kann es eine gute Idee sein, sich Hilfe von außen zu holen: bei Freunden, Familienmitgliedern
und professionellen Beratern. Die Erfahrung hat zudem gezeigt, dass man gut daran tut, über den
gegebenen Rat nachzudenken, bevor man ihn in die Tat umsetzt. Manche Experten sind mit den
Diagnosen »hyperaktiv« oder »ADHS« (Aufmerksamkeitsdefzit-/Hyperaktivitätsstörung) schnell bei
der Hand, ohne sich näher mit den Familienstrukturen beschäftigt zu haben. Vermutlich werden sie
den Eltern raten, Grenzen in Form von Vorschriften und Verboten setzen, oder den Fokus ganz und
gar auf das Verhalten des Kindes lenken.
Wenn Sie also das Gefühl haben, dass Ihr Berater auf dem Holzweg ist, dann sollten Sie sich
vergegenwärtigen, dass er nicht annähernd so viel über ihre Familie weiß wie sie selbst. Sie sollten
ihm dabei helfen, ihre Familie besser kennenzulernen, damit es zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit
kommen kann.

Im Schlusskapitel, »Von der Kunst, sich beraten zu lassen«, erfahren Sie Näheres zu diesem Thema.
© »Die kompetente Familie« erschienen im Beltz-Verlag, Autor Jesper Juul

Auszug aus »Vom Gehorsam zur Verantwortung« von Jesper Juul & Helle Jensen, Beltz Taschenbuch

Welches Ziel verfolgen wir durch die Art und Weise, mit der wir unsere Kinder erziehen? Die
Überschrift dieses Kapitels deutet bereits eine prinzipielle Wahlmöglichkeit an, und die hat man in
vieler Hinsicht tatsächlich. Für Kinder und Erwachsene ist es jedenfalls unangenehm und verwirrend,
wenn die Eltern, Lehrer und Erzieher, diesbezüglich einen Zickzackkurs fahren.
Historisch betrachtet war Gehorsam über viele Generationen hinweg ein selbstverständliches
Erziehungsziel. Die Gesellschaft im Ganzen war autoritär, was sich in den meisten Familien, in der
Schule und am Arbeitsplatz widerspiegelte. Sozial bewährte man sich am besten, wenn man gelernt
hatte, sich Autoritäten nicht zu widersetzen. Der Nutzen in psychologischer und existenzieller Hinsicht
darf jedoch bezweifelt werden.
Dann wurde die Gesellschaft plötzlich von einer antiautoritären, demokratischen Welle ergriffen. Die
Frauen begehrten gegen die Unterdrückung auf; unser Wissen über Kinder explodierte förmlich und
veränderte fundamental unsere Sichtweise auf sie und die Kindheit im Allgemeinen. Für mehrere
Jahrzehnte standen sich die alte autoritäre Erziehung mit ihren starren Normen, Regeln und Strafen
sowie eine freiere, demokratische Erziehung unversöhnlich gegenüber, bis wir entdeckten, dass
eigentlich keine dieser beiden Erziehungsmethoden wirklich überzeugend ist.
Darf man den Ergebnissen verschiedener Untersuchungen Glauben schenken, so schneidet diejenige
Erziehung am besten ab, die man heutzutage als »autoritativ« bezeichnet, eine Erziehung also, in der
die Eltern Autoritäten sind, ohne autoritär zu sein. In der die Eltern ihre Macht anerkennen, ihre
Führungsrolle nicht scheuen und für die Integrität ihrer Kinder Sorge tragen.
Die große Frage lautet allerdings: Wie macht man das? Zum Glück gibt es darüber viele verschiedene
Ansichten und inzwischen auch die unterschiedlichsten Erfahrungen zahlreicher Familien.
Es ist nämlich eine Tatsache, dass diejenigen, die vor zehn Jahren Eltern wurden, die ersten Menschen
überhaupt sind, die sich an dieser Art der Erziehung versuchen. Es reicht nicht, die vermeintlichen
Fehler der eigenen Eltern vermeiden zu wollen oder sich unter den Experten und Autoren einen
persönlichen »Guru« auszuwählen.
Kinder sind unglaublich verschieden, und dasselbe gilt für ihre Eltern. Was sich in der einen Familien
bewährt, kann in der nächsten scheitern. Selbst häufig verwendete Begriffe wie »Grenzen«,
»Fürsorge«, »Regeln«, »Aufmerksamkeit« usw. fassen wir, im Lichte eigener Erfahrungen und
Anschauungen, unterschiedlich auf. Das ist unvermeidlich und gut so! Alles andere führt zu
Uniformierung, macht die wichtigsten Menschen in unserem Leben zu Objekten und beschädigt ihre
Integrität.
Wenn es um Kindererziehung geht, ist es also eine schlechte Idee, einfach nach einer passenden
Methode Ausschau zu halten. Eine gute Idee ist es hingegen, sich Rechenschaft über seine
Wertvorstellungen abzulegen: Woran glaube ich? Was sind die eigentlichen Bedürfnisse des
Menschen? Welche Werte, die mir meine Eltern vermittelten, haben sich als konstruktiv erwiesen, und
welche sollte ich über Bord werfen?
Kinder wollen immer kooperieren und ihren Eltern jeden Tag Freude bereiten. Wenn sie es nicht tun,
kann das an vier Dingen liegen:
– Die Eltern haben die Fähigkeit verloren, sich zu freuen, und richten all ihre Energie auf die »Probleme«.
– Die Kinder können nicht noch mehr kooperieren, als sie es ohnehin schon tun, ohne Schaden zu nehmen.
– Die Kinder hatten nicht genügend Zeit, um verstehen zu lernen, was ihre Eltern sich wirklich wünschen.
– Die Erwachsenen legen ihren Kindern Steine in den Weg, ohne sich darüber im Klaren zu sein.

Natürlich haben wir es am liebsten, wenn unsere Kinder sich einigermaßen an das halten, was wir
ihnen sagen, aber verlangen wir wirklich Gehorsam von ihnen? Wollen wir, dass sie etwas tun, nur
weil wir es ihnen gesagt haben? Und wollen wir, dass sie sich in ihrem Leben fremden Autoritäten
widerspruchslos fügen?
Wollen wir nicht vielmehr, dass sie sich zu eigenständigen, kritischen Persönlichkeiten entwickeln, die
Verantwortung für ihre eigenen Entscheidungen übernehmen und sich weder unterdrücken noch
verführen oder manipulieren lassen?
Lange Zeit haben sich Eltern gewünscht, dass ihre Kinder ersteres Verhalten zu Hause und letzteres
draußen in der Welt an den Tag legen. Aber das ist ein Widerspruch, und Kinder sind nicht in der
Lage, beide Forderungen gleichermaßen zu erfüllen, so gerne sie dies auch täten.
Wenn es Kinder und Jugendliche über einen längeren Zeitraum hinweg unterlassen, Dinge zu tun, die
nicht nur unseren Wünschen entsprechen, sondern in ihrem eigenen Interesse liegen, dann geht in
der Regel irgendetwas in der Familie oder auch nur zwischen Eltern und Kindern vor sich, das sie
daran hindert. Dann verfolgen die Eltern unwillentlich einen falschen Weg und müssen dies
korrigieren, damit das Kind seine Eigenständigkeit wiederentdecken kann.
Doch all diese Dinge müssen wir einfach auf uns zukommen lassen. Sie können nicht im Voraus
entschieden werden. Zunächst müssen wir unsere Kinder – und uns selbst als Eltern – kennenlernen.
Erziehung ist »learning by doing« – bis wir unseren eigenen Weg gefunden haben. Kinder brauchen
keine perfekten Eltern, die über jeden Zweifel erhaben sind, sondern authentische Menschen aus
Fleisch und Blut, die nicht alles wissen, doch stets bereit sind, sich weiterzuentwickeln.

© »Vom Gehorsam zur Verantwortung« Beltz Taschenbuch, Autoren Jesper Juul und Helle Jensen

Artikel als PDF

Photo by Matthew Waring on Unsplash

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