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Dr. Gabor Maté über die wahre Ursache unserer Angst und unserer „wahnsinnigen“ Kultur

Übersetzt aus einem englischen Video von Human Window
Interview Martin Caparotta mit Dr. Gabor Maté. Wir danken Martin Caparotta für die freundliche Genehmigung zur Übersetzung und Veröffentlichung

Übersetzung und Lektorat Nuka Matthies /
Realisierung familylab.de /Mathias Voelchert GmbH

 Wir sprachen in diesem Interview über eine große Bandbreite von Themen – von Gabors Überzeugung, dass die meisten Störungen psychischer Gesundheit aus unverarbeitetem Kindheitstrauma stammen, bis zu den Gründen, warum er die gegenwärtige westliche Kultur als „wahnsinnig“ und als unfähig, grundlegenden menschlichen Bedürfnissen zu begegnen, bezeichnet.

Er beschrieb detailliert, was er als grundlegende Ursachen von zum Beispiel Angststörungen, Panikattacken und Fibromyalgie sieht. Wir sprachen auch über den Prozess, sich wieder mit dem eigenen authentischen Selbst zu verbinden. Neben diesen und anderen Dingen unterhielten wir uns auch über seine Erfahrungen mit der Arbeit mit der pflanzlichen Medizin Ayahuasca.

Es war uns wirklich eine Ehre, Gabor in London zu treffen und wertvolle Einsichten in so wichtige Themen zu gewinnen.

Human Window:    Gabor, vielen Dank, dass du dir die Zeit nimmst, mit Human Window zu sprechen. Du bist unter anderem bekannt als Experte zu den Themen Abhängigkeit, Kindheitstrauma und seelisch-körperliche Gesundheit. Das klingt zwar nach ganz unterschiedlichen Themen, aber ich glaube, deine Arbeit verbindet sie irgendwie. Würdest du uns etwas über den Hintergrund deiner Reise erzählen und darüber, wie dein Interesse an diesem Gebiet seinen Anfang nahm?

Gabor Maté:           Gern, aber in gewisser Weise bin ich nur ein Hochstapler. Ich schreibe all diese verschiedenen Bücher, und ich spreche in vielen Ländern über Abhängigkeit, kindliche Entwicklung, Stress, Gesundheit, Elternschaft … und ich sage dabei nur eine einzige Sache: Wenn du Kinder gut behandelst, wird es ihnen gut gehen, und wenn du sie nicht gut behandelst, wird es ihnen nicht gut gehen. Das ist eine sehr einfache Botschaft, die jeder Mensch auch von seiner Urgroßmutter hätte hören können. Die Tatsache, dass die Botschaft überhaupt notwendig ist, ist bezeichnend für unsere Zeit.

Als Hausarzt lernt man die Leute und ihr Leben kennen. Man lernt Familien und mehrere Generationen von Familien kennen. Man erfährt, wer krank wird, wer stirbt und wer gesund bleibt. Man kann intergenerationelle Dynamiken beobachten. Das hat bei mir zu der Beobachtung geführt, dass es keine Zufälle sind, ob jemand krank wird oder nicht, wer abhängig wird und wer nicht, wer psychische Erkrankungen hat und wer nicht. Es gab Ursachen im Leben der Betroffenen. Gleichzeitig war mir mit Mitte Dreißig, als ich meine medizinische Karriere begann, und auch noch mit Mitte Vierzig sehr bewusst, dass ich nicht glücklich und zufrieden war. Ich litt selbst unter Depressionen. Und all mein Erfolg hatte mich kein bisschen glücklicher gemacht. Ich hatte auch Probleme in meiner eigenen Familie – mit meinen Kindern und meiner Ehe und so weiter. Ich musste mir die Ursachen des Ganzen anschauen.

Ob ich mir meine Patient*innen anschaute oder ob ich mir meine eigene Geschichte ansah und versuchte, mich selbst zu verstehen, ich begriff, dass sehr vieles von dem, woran Menschen leiden – ob das körperliche Erkrankungen, psychische Erkrankungen oder Abhängigkeiten sind –, mit Kindheitserfahrungen in Verbindung steht. Es war nicht zu übersehen. Dann entdeckte ich, dass es auch unheimlich viel Literatur zu dem Thema gab. Trauma und kindliche Entwicklung und deren Zusammenhang mit Stress und Gesundheit waren erforscht worden. Ich begann, mir die vorhandene Literatur anzuschauen und meine eigene Auffassung und meine eigenen Ideen zu entwickeln. Das Ganze begann mit meinen persönlichen Erfahrungen und meinen Beobachtungen aus dem Beruf.

Human Window:    Du sprichst viel über Kindheitstrauma. Wie lautet deine Definition von Trauma?

Gabor Maté:           Es ist tatsächlich wichtig, den Begriff zu definieren, weil die Leute das Wort „Trauma“ wie das Wort „Gott“ benutzen. Aber wer weiß schon, was die jeweilige Person meint, wenn sie „Gott“ sagt. Die eine Person könnte von einer strafenden, diktatorischen Vaterfigur mit weißem Bart sprechen, und die andere könnte damit die Essenz purer Liebe in dieser Welt meinen.

Der Ursprung des Wortes „Trauma“ ist das griechische Wort für „Wunde“. Ein Trauma ist eine Wunde. Für mich ist das so: Wenn ich dich verletzt, dir ins Fleisch geschnitten hätte, würde sich als Teil des Heilungsprozesses Narbengewebe bilden. Wäre die Wunde groß genug, würdest du eine große Narbe zurückbehalten und an dieser Stelle würden Nervenenden fehlen, so dass du dort nichts fühlen könntest. Außerdem wäre die Stelle viel weniger flexibel als dein normales Gewebe. Ein Trauma liegt vor, wenn jemand weniger fühlt und wenn er oder sie weniger flexibel auf die Welt reagieren kann. Das ist die Reaktion auf eine Verwundung.

Trauma ist eine psychische Wunde, die dich auf psychologischer Ebene hart macht und in der Folge deine Fähigkeit, zu wachsen und dich zu entwickeln, beeinträchtigt. Die Wunde bereitet dir Schmerz, und dein Verhalten basiert dann auf diesem Schmerz. Sie erzeugt Angst, und dein Verhalten basiert dann auf dieser Angst. Ohne dass du es weißt, wird also dein ganzes Leben von der Angst und dem Schmerz, denen du auf verschiedene Arten und Weisen zu entkommen versuchst, gesteuert.

Trauma ist nicht das, was dir jetzt passiert, sondern es ist das, was als Resultat dessen, was dir passiert ist, in deinem Inneren stattfindet. Trauma ist die Narbenbildung, die dich starrer und weniger flexibel macht und die dich dazu bringt, dass du weniger fühlst und dass du dich eher in einer Verteidigungsposition befindest.

Human Window:    Ich habe dich einmal sagen hören, dass wir in einer hochtraumatisierten Gesellschaft leben. Wie verbreitet ist Trauma in unserer heutigen Gesellschaft?

Gabor Maté:           Wenn man sich die Rate von offensichtlichen Traumatisierungen aufgrund von sexuellem Missbrauch oder emotionaler Vernachlässigung in der Kindheit und auch aufgrund von Kinder traumatisierendem Stress in Familien anschaut … dann ist Trauma weitverbreitet. In unserer Kultur wachsen nur wenige Menschen völlig untraumatisiert auf. Das gilt insbesondere mit den wachsenden Stressbelastungen und der immer größer werdenden Einsamkeit der Menschen – wenn sie leiden, sind sie mit ihrem Leiden allein.

Wir leben in einer extrem gestressten und traumatisierten Gesellschaft, und das lässt sich nicht von sozioökonomischen Faktoren trennen. Mit dem Neoliberalismus und dem Verlust von sinnhafter und sicherer Arbeit, mit Knappheit und dem Verlust von Gemeinschaften sind die Menschen nicht nur gestresster und traumatisierter, sie sind auch weniger resilient, weil Resilienz Verbundensein und die Unterstützung durch eine Gemeinschaft erfordert.

Human Window:    Im Zuge der Erforschung meiner eigenen Probleme wurde mir klar, dass wir alle bis zu einem gewissen Grad traumatisiert sind. Was versteht deiner Ansicht nach der Großteil der Menschen unter Trauma, und was denkst du, sollte sich da ändern?

Gabor Maté:           Zuerst einmal möchte ich sagen, dass die meisten Menschen Trauma nicht verstehen. Für sie ist das vielleicht so etwas wie ein Tsunami oder ein Bombenangriff. Natürlich sind das traumatische Ereignisse, aber die meisten Menschen verstehen Trauma so, dass etwas Entsetzliches passiert. Sie sehen Trauma nicht als innere psychische Wunde, die ihre Fähigkeit beeinträchtigt, ihr Leben so ganzheitlich, wie es ihnen möglich ist, zu leben. Das ist es aber, was Trauma eigentlich bedeutet.

Noch schlimmer ist, dass der*die durchschnittliche Medizinstudent*in das Wort „Trauma“ im Laufe seiner*ihrer Ausbildung nicht einmal hört. Sie hören das Wort einfach nicht! Es geht nicht darum, dass sie keine Vorlesung dazu hören, sondern sie hören das Wort einfach nicht – zumindest nicht in dem Sinne, über den ich spreche. Vielleicht hören sie etwas über physisches Trauma, aber außer in dem sehr kleinen Fachgebiet der Posttraumatischen Belastungsstörung, zu dem manche Psychiater*innen etwas lernen, hören sie nichts über psychisches Trauma. Das Trauma, das den Durchschnittsmenschen betrifft, wird im medizinischen Lexikon noch nicht einmal gedanklich gestreift.

Auch das Rechtssystem weiß nichts von Trauma. Wenn also all diese traumatisierten Menschen vor Richter*innen und Anwält*innen landen, weil sie traumatisiert wurden und jetzt Drogen nehmen oder gewalttätig sind und so ihr Trauma ausagieren, werden sie einfach bestraft – statt dass das System versteht, dass es sich hier um extrem verletzte Menschen handelt. Mit der richtigen Unterstützung könnte man diese Leute rehabilitieren.

Das Rechtssystem versteht das nicht, das Gesundheitssystem versteht das nicht, das Bildungssystem versteht das nicht, die Politiker*innen verstehen das nicht. Das ist ein Riesenproblem.

Human Window:    Du hast bei deinem Vortrag gestern Abend darüber gesprochen, dass die Ursache vieler unserer Probleme als Erwachsene darin liegt, dass wir in der Kindheit die Verbindung zu uns selbst verloren haben. Kannst du uns ein bisschen darüber erzählen, wie das passiert?

Gabor Maté:           Wenn ich von der Verbindung zum eigenen Selbst spreche, rede ich über etwas sehr Einfaches. Es geht um die Fähigkeit eines Organismus, wahrzunehmen, was er fühlt, und darauf mit Emotionen zu reagieren, die dem gegenwärtigen Moment angemessen sind. Ohne diese Fähigkeit kann man nicht überleben. Wenn ein Tier keine Verbindung zu sich selbst hat und nicht weiß, was es fühlt, kann es nicht auf Bedrohungen reagieren – und es wird sterben. Das Gleiche gilt für menschliche Wesen in der Evolution. Wenn ich über die Verbindung zu unserem Selbst spreche, meine ich damit, dass wir wirklich wissen, was wir in einem bestimmten Moment fühlen und erleben, und dass wir in der Lage sind, das angemessen zu interpretieren. Ohne diese Fähigkeit sind wir verloren. Wir wurden mit dieser Fähigkeit geboren – du wirst noch nie einem Baby begegnet sein, das nicht mit seinem Bauchgefühl verbunden ist.

Wenn man mit Erwachsenen spricht, stellt man dagegen fest, dass viele Menschen ihr Bauchgefühl ignorieren – selbst wenn sie es haben. Irgendetwas passiert zwischen dem Babyalter und dem Erwachsenenalter, das uns trennt – und zwar ist das unser Bedürfnis, von unserer Umgebung angenommen zu werden. Wenn unsere Umgebung unser Bauchgefühl und unsere Emotionen nicht stützen kann, wird man als Kind automatisch, unwillentlich und unbewusst seine Emotionen und seine Verbindung zu sich selbst unterdrücken, um „dazuzugehören“ und „sich einzupassen“. Das tut das Kind, um mit der Umgebung, die es versorgt und ohne die es nicht überleben kann, in Verbindung zu bleiben. Viele Kinder stecken in diesem Dilemma: „Darf ich wahrnehmen und ausdrücken, was ich fühle, oder muss ich das unterdrücken, um angenommen werden zu können, um ein gutes Kind zu sein, um ein liebes Kind zu sein?“

Hinzu kommt: Wenn die Eltern selbst keine Verbindung zu ihren Gefühlen haben, können sie die Gefühle des Kindes nicht tolerieren, weil sie sich durch diese bedroht fühlen. Die Eltern wenden sich gegen das Kind, weil dieses Wut verspürt, und das Kind lernt: „Ich darf nicht ausdrücken, was ich fühle, weil ich zu meinen Eltern gehören muss. Wer wird mich beschützen und versorgen, wenn ich nicht mehr zu ihnen gehöre?“ Wir trennen uns automatisch von unserem Selbst, damit sich weiterhin jemand um uns kümmert. Das ist eine tragische Wahl. Das ist nicht mal eine Wahl – das Kind ist sich nicht bewusst, dass es eine Entscheidung trifft. Es ist ein automatisch ablaufender Prozess. Dann erreichen wir das Erwachsenenalter und sagen auf einmal: „Ich weiß nicht, wer ich bin.” Gerade im mittleren Alter realisieren die Menschen oft, dass sie ein Leben gelebt haben, das überhaupt nicht ihr eigenes Leben war. Das haben sie getan, weil sie von sich selbst getrennt wurden.

Achtzig Prozent der kanadischen Männer hat angegeben, dass sie von ihrem Job gestresst sind. Die Wirtschaft braucht Leute, die bereit sind, sinnlose Jobs mit untragbaren Arbeitsbedingungen zu übernehmen, und die sich damit einfach abfinden. Die Bedarfe der Wirtschaft und die Art, wie wir Kinder aufziehen, gehen Hand in Hand. Je getrennter von sich selbst Kinder sind, desto besser passen sie in die Wirtschaft, die sich nicht für menschliche Gefühle interessiert, sondern nur für Profit und Produktion. Das ist einfach ein Kreislauf, der immer so weitergeht.

Human Window:    Dein neues Buch wird heißen: „The Myth of Normal: Illness and Health in an Insane Culture“ (Der Mythos der Normalität: Krankheit und Gesundheit in einer wahnsinnigen Kultur). Wir wahnsinnig ist unsere Kultur?

Gabor Maté:           Das hängt davon ab, wie man „geistige Gesundheit“ definieren will. Wenn man sie als etwas sieht, das mit der menschlichen Natur und den menschlichen Bedürfnissen übereinstimmt … Sinn, Verbindung, Bestätigung und Transzendenz – das sind menschliche Bedürfnisse. Die Gesellschaft ist wahnsinnig, weil sie diese menschlichen Bedürfnisse komplett mit Füßen tritt. Das ist es, was sie wahnsinnig macht. Wenn jemand innerhalb dieser Gesellschaft normal ist, entspricht sie oder er einer wahnsinnigen Norm – so leitet sich der Titel des Buchs her.

Ich schreibe noch an einem anderen Buch, gemeinsam mit meinem Sohn, der Titel wird lauten: „Hello Again: A fresh start for adult children and their parents“ (Nochmal hallo: Ein neuer Start für erwachsene Kinder und ihre Eltern). Erwachsene Eltern-Kind-Beziehungen sind sehr oft so dermaßen beschädigt, dass wir als Erwachsene nicht mal wissen, wie wir mit unseren Eltern überhaupt in Beziehung treten sollen – und umgekehrt. Es geht in dem Buch darum, diese intergenerationelle Kluft zu überwinden und jeder Generation dabei zu helfen, hundert Prozent Verantwortung für die eigenen Rolle in den Dynamiken zu übernehmen.

Human Window:    Einige meiner engen Freunde hatten mit Angstzuständen und mit Panikattacken zu kämpfen. Das waren Leute Ende Zwanzig, Anfang Dreißig. Glaubst du, dass so etwas immer seine Wurzeln in der Kindheit hat? Und hast du praktische Tipps für jemanden, der versucht, an diese Wurzeln heranzukommen?

Gabor Maté:           Natürlich. Ganz allgemein bin ich der Ansicht, dass die meisten – fast alle – psychischen Störungen ihre Ursachen in Kindheitserfahrungen haben und dass sie in ihrem Ursprung Bewältigungsmechanismen waren. Schauen wir uns Angst an: Wenn ich mit einer Waffe auf dich zielen würde, hättest du echte Angst, und das solltest du auch. Wann haben wir Angst? Wenn wir von etwas bedroht werden. Entweder passiert uns etwas Schlimmes, oder wir erleben die Bedrohung, dass etwas, das wir brauchen, uns weggenommen wird.

Im Leben eines sehr kleinen Kindes hat Angst eine Alarmfunktion, die mit Bindung zu tun hat. Was ist das größte Bedürfnis des Kindes? Bindung und Beziehung zu den Eltern. Wenn die Eltern nicht in der Nähe des Kindes sind, sollte das Kind Angst verspüren. Das erfüllt einen positiven Zweck. Wenn das Kind Angst verspürt, weint es, und das sorgt dafür, dass das jeweilige Elternteil kommt. Schau dir an, wie eine Katze auf die Schreie ihrer Kätzchen reagiert – unmittelbar. Mit menschlichen Wesen, die noch mit ihrem Elterninstinkt verbunden sind, ist es das Gleiche – sie werden auf den Hilferuf des Kindes reagieren. Diese Art der Angst ist eine Anpassungsleistung und eine Bewältigungsstrategie. Aber was passiert mit jemandem, dessen Eltern von medizinischen Fachleuten beigebracht wurde, ihre Kinder nicht auf den Arm zu nehmen, wenn sie weinen? Dann wird die natürliche Angst, die das Weinen bewirkt, die Eltern kommen lässt und so die Angst wieder verschwinden lässt, im Kind eingeschrieben. Was also als Bewältigungsstrategie begonnen hat, wird jetzt generalisiert.

Unter bestimmten Umständen sollte man Angst und Sorge verspüren. Wenn ich aber Angst habe, ohne dass es eine direkte Bedrohung gibt – worum geht es da? Dann ist die Angst keine natürliche Reaktion auf irgendetwas aus der Außenwelt, sondern die eingeschriebene Angst, die in meiner Kindheit entstanden ist.

In einer Gesellschaft, die die Menschen permanent mehr und mehr isoliert, in der menschlicher Kontakt durch die relativ kalte und unpersönliche Welt des Internets ersetzt wird und in der junge Menschen weniger Zugang zu sinnhafter Arbeit und Zugehörigkeit haben als ihre Eltern früher, haben wir es mit einer allgemeineren Bedrohungssituation zu tun. Wenn diese allgemeine Bedrohungssituation auf Menschen trifft, die in ihrer Kindheit zu sehr in Angst versunken waren, die von ihren Eltern nicht aufgelöst wurde, indem sie kamen und dem Kind halfen – dann haben wir den Fall einer Angststörung.

Deinen Freund*innen, die mit Angstgefühlen zu kämpfen haben, würde ich raten, sich wirklich ihre Kindheit anzuschauen und zu erkennen, dass die Angst in Wirklichkeit der verzweifelte Hilfeschrei eines ihrer kindlichen Anteile ist – und zu lernen, wie sie sich Hilfe für diesen Anteil holen können, statt einfach zu Alkohol oder Beruhigungsmitteln zu greifen, um die Angst nicht fühlen zu müssen. Wirklich zu sehen, dass die Angst eine normale Reaktion auf das ist, was ihnen tatsächlich passiert ist … und dass man sich von ihr befreien und heilen kann, wenn man sich ihre Ursprünge anschaut.

Human Window:    Welchen Rat würdest du jemandem geben, dem einige der Dinge, über die du sprichst, beziehungsweise die eigenen Probleme, gerade erst bewusst werden und der gerade damit beginnt, ihre Wurzeln zu erforschen?

Gabor Maté:           Mach weiter. Das ist eine Reise, die immer weitergeht, wie du selbst wahrscheinlich weißt. Aber ich habe meine Grabinschrift verfasst – auf meinem Grabstein wird stehen: „Es war viel mehr Arbeit, als ich erwartet hatte.“ Es ist viel Arbeit, aber es ist eine notwendige und wunderschöne Arbeit, weil sie dich wirklich und auf wahrhaftige Art und Weise in dein Leben bringt. Sie bereichert deine Beziehungen. Je mehr du dich kennenlernst, desto freier wirst du. Das ist der Grund, warum Jesus gesagt hat: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Wie alle spirituellen Meister*innen war auch Jesus ein großartiger Psychologe. Im Thomas Evangelium hat er außerdem gesagt, dass alles, was du aus dir herausholst, dich frei machen wird, und dass alles, was du nicht aus dir herausholst, dich töten wird. Das ganze Zeug, das wir mit uns herumtragen, kann unangenehm und erschreckend sein … in dem Maße, wie wir uns dafür verurteilen, diese Probleme zu haben. Wenn wir uns aber mit echter Neugier für das, worum es geht, und mit etwas Mitgefühl begegnen, kann das unglaublich befreiend sein.

Wenn du also damit begonnen hast, mach weiter damit. Es gibt viele Wege. Erweise auch deinem Körper Ehre. Sorge dafür, dass du gut isst, und gehe in die Natur und bewege dich. Mach Körperarbeit wie zum Beispiel Yoga, Kampfkunst oder irgendetwas anderes. Bring deine Psyche mit deinem Körper auf eine Linie, und lerne beide kennen.

Human Window:    Du hast in den vergangenen Jahren mit Ayahuasca gearbeitet. Kannst du uns etwas über den Hintergrund deiner Arbeit mit pflanzlicher Medizin und über die Rolle, die sie deiner Ansicht nach spielen könnte, erzählen?

Gabor Maté:           Bei Ayahuasca handelt es sich um eine Pflanze, die im Amazonasbecken in Peru, Kolumbien, Brasilien und Ecuador wächst.

Die Shaman*innen dort – übrigens haben diese unterschiedliche ethnische Wurzeln – nutzen solche Pflanzen seit mindestens hunderten, möglicherweise auch schon seit tausend oder mehr Jahren, als Heilmittel in einem zeremoniellen Kontext. Tatsächlich ist Ayahuasca die Kombination von zwei Pflanzen, die von den Schaman*innen gekocht und miteinander vermengt werden. Sie hat die Fähigkeit – das konnte mit Hirn-Scans gezeigt werden –, Bereiche des Gehirns zu öffnen, in denen Kindheitserinnerungen, emotionale Erinnerungen und auch erwachsene Einsichten gespeichert sind. Um es ganz kurz und vereinfacht zu sagen: Wenn du unter den richtigen Umständen Ayahuasca zu dir nimmst, kannst du deine Kindheitserfahrungen noch einmal durchleben – mit den Einsichten eines Erwachsenen.

Während dieses Prozesses kann es auch passieren, dass du Visionen hast. Mir passiert das eher nicht. Ich wünschte, es wäre so, dass ein paar Jaguare vorbeikämen und mit mir sprechen würden, doch bisher haben sie das noch nicht getan! Viele Leute haben Visionen, und diese haben immer eine Bedeutung. Die Anakonda oder der Jaguar werden zu einem Symbol für etwas in deinem Inneren und auch dafür, wie das mit der Natur in Verbindung steht. Wir kommen aus der Natur, wir sind ein Teil der Natur, und die Menschen im Amazonas sind mit Sicherheit sehr verbunden mit der Natur. Durch diese Visionen und durch die emotionalen Zustände deiner Kindheit – durch die Freude und die Glücksseligkeit oder durch die Angst und den Schrecken und den Schmerz – lernst du deine wahre Natur kennen. Und du kannst dich mit ihr anfreunden, wenn du das mit den Einsichten des*der Erwachsenen begleitest.

Das ist eine etwas romantisierte Version dessen, was geschieht. Manchmal ist alles, was du bekommst, Bauchschmerzen und dass du dich übergibst. Und für manche Menschen kann es wirklich sehr schwer sein, wenn die Ängste und der Schrecken in ihnen hochkommen. Aber im richtigen Kontext, mit der richtigen Unterstützung und Anleitung, können diese Erfahrungen tiefe Bedeutung haben. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Leute sagen, dass solche Zeremonien ihnen mehr gegeben haben, als zehn Jahre Psychotherapie. Ich höre das sehr oft.

Sie sind aber nicht für jeden Menschen das Richtige. Entweder zieht es dich da hin oder nicht. Niemand sollte sich zwingen, und bestimmte Menschen sollten es gar nicht machen. Bestimmte Medikamente darf man nicht damit kombinieren. Aber für manche Menschen können diese Zeremonien Reisen in die Tiefe ihrer Seele bedeuten.

Human Window:    Ich kenne ein paar Frauen, die vor kurzem Diagnosen wie Endometriose und Fibromyalgie bekommen haben. Würdest du auch hier sagen, dass solche Leiden immer in der kindlichen Entwicklung ihre Wurzeln haben?

Gabor Maté:           Nur in hundert Prozent der Fälle. Wenn man sich wirklich mit diesen Frauen mit Endometriose oder Fibromyalgie unterhält … Das sind psychologische Prozesse, aber wir wissen durch die Wissenschaft und durch unsere Intuition, dass die Psyche und der Körper sich nicht trennen lassen. Diese Menschen leiden unter massivem Stress. Diese Stressbelastungen haben damit zu tun, dass das Selbst unterdrückt wird – was als Bewältigungsmechanismus in der Kindheit begonnen hat. Ich kenne Menschen, die sich mit der richtigen Unterstützung über den Prozess intensiver Arbeit am Selbst von Endometriose oder Fibromyalgie und sogar von noch bedrohlicheren Leiden geheilt haben. Ich lege den Menschen, die an Endometriose oder Fibromyalgie leiden, dringend ans Herz, mein Buch „When the Body Says No“ (Wenn der Körper nein sagt) zu lesen. Meiner Ansicht nach ist ihre sogenannte Krankheit in Wirklichkeit der Körper, der nein zu Stressbelastungen in ihrem Leben sagt, zu denen sie selbst nicht nein gesagt haben.

Ich würde sie auffordern, sich ihre Beziehungen, insbesondere die zu ihrem*ihrer Partner*in, anzuschauen. Wieviel von dem Stress des*der Partner*in nimmst du auf dich? Wie sehr bist du damit beschäftigt, den Leuten in deiner Umgebung ein gutes Gefühl zu geben? Wie nett bist du zu Leuten – egal, wie du dich fühlst? Wie sehr nimmst du die Probleme anderer Leute auf dich und ignorierst deine eigenen? Wie gut kennst du dich selbst? Wo sagst du nicht nein, weil du Angst davor hast – obwohl du nein sagen willst? Wenn die Leute sich mit diesen Fragen beschäftigen, reagieren ihre Körper sehr positiv.

Human Window:    Welchen Rat würdest du deinem achtzehnjährigen Ich geben?

Gabor Maté:           Richte den Fokus nach innen. Mit achtzehn war ich sehr darauf fokussiert, die Welt zu verbessern. Daran ist nichts Falsches, aber es war auch eine Flucht vor der riesigen Verzweiflung, die ich in mir hatte, ohne sie anzuschauen. Sokrates hat gesagt, dass das Leben, das nicht kritisch untersucht wird, es nicht wert ist, gelebt zu werden – was stimmt.

Ich würde sagen: Lerne dich selbst kennen. Werde neugierig – Neugier bedeutet, dass du etwas wirklich nicht weißt und dass du offen bist, etwas herauszufinden – was auch immer dabei herauskommt. Das erfordert viel Mut, weil die Menschen Angst vor dem haben, was sie herausfinden werden. Donald Trump und Hilary Clinton haben beide gesagt, dass sie keine Psychotherapie machen wollen, weil sie keine Dinge über sich selbst herausfinden wollen, die ihnen Angst machen.

Ich würde meinem achtzehnjährigen Ich sagen: Entspanne dich, die Welt ist gütig, sie wird für dich da sein, wenn du einfach selbst für dich da bist und dich selbst kennenlernst. Schenke deinem Inneren – nicht deinen egoistischen Bedürfnissen – genau so viel Aufmerksamkeit wie der Außenwelt. Vernachlässige nicht das eine zugunsten des anderen.

Übersetzt aus einem englischen Video von Human Window,
Interview Martin Caparotta mit Dr. Gabor Maté. Wir danken Martin Caparotta für die freundliche Genehmigung zur Übersetzung und Veröffentlichung

Übersetzung und Lektorat Nuka Matthies /
Realisierung familylab.de /Mathias Voelchert GmbH

 

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Dr. Gabor Maté

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“Dr. Gabor Maté verknüpft gekonnt die jüngsten Erkenntnisse der Biomedizin mit den persönlichen Geschichten seiner Patienten. Seine Tiefgreifenden Schlussfolgerungen machen deutlich, wie tief unsere Erfahrungen unsere Gesundheit, unser Verhalten, unsere Einstellungen und Beziehungen beeinflussen. Eine Pflichtlektüre!”

– Dr. Bruce Lipton, Entwicklungsbiologe und Bestseller-Autor von “Intelligente Zellen”

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Photo by Sydney Sims on Unsplash

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