Ein Gespräch mit Jesper Juul
„Viele sehen nur, dass Kinder heutzutage freier im Umgang mit Erwachsenen sind
und von der Wirtschaft als Konsumenten geschätzt werden. Sie haben jedoch keinen
Blick dafür, dass die Möglichkeiten der Kinder, nach ihren eigenen Vorstellungen zu
leben und zu spielen, allmählich gegen Null gehen. Kinder von heute sollen vor allem
funktionstüchtig sein, um einen menschenfeindlichen Ausdruck zu benutzen: eine
Uniformierung, die allmählich zur kollektiven Zwangsjacke wird“, kritisiert der dänische
Familientherapeut und Buchautor.
Jesper Juul, Jahrgang 1948, ist einer der bedeutendsten Familien-therapeuten
Europas. Er wurde durch zahlreiche Seminare, Vorträge und Elternratgeber
international bekannt und ist Gründer des „Kempler Institute of Scandinavia“ bei
Aarhus / Dänemark. Hier werden Menschen verschiedener Berufsgruppen, die
professionell mit Familien zusammenarbeiten, zu Beratern ausgebildet. Darüber
hinaus stärkt Jesper Juul die Kompetenz von Eltern in seinem Länder übergreifenden
Beratungs- und Seminarprojekt „family lab“.
Wie beurteilen Sie die Erziehungsdebatte in unserer heutigen Zeit?
Sie wurde in den letzten 15 Jahren vom „Grenzen setzen“ dominiert. Die scheinbare
Notwendigkeit, Kindern Grenzen zu setzen, hat inzwischen einen nahezu religiösen
Status erlangt. Und wehe dem, der sich diesem Dogma nicht beugt! Zudem scheint
mir eine neue pädagogische Primitivität auf dem Vormarsch zu sein – angeführt von
unbeirrbaren „Super-Nannys“ und Verhaltenspsychologen, die uns weismachen,
jede noch so chaotische Familie binnen weniger Tage in einen Hort der Ruhe und
Harmonie verwandeln zu können. Es ist äußerst bedenklich, dass das Bedürfnis der
Erwachsenen, den Kindern Grenzen zu setzen, im selben Maße gestiegen ist, in dem
der physische und psychische „Spielraum“ der Kinder dramatisch eingeschränkt wird.
Worauf sind die meisten Probleme zwischen Eltern und Kindern zurückzuführen?
Die meisten Konflikte in der Familie entstehen deshalb, weil ihre Mitglieder nicht in der
Lage sind, Nein zu sagen, obwohl sie es möchten. Weil sie sich nicht abgrenzen und
nicht deutlich genug ausdrücken. Selbstverständlich haben wir für unser Verhalten
stets gute Gründe. Wir wollen andere nicht vor den Kopf stoßen oder gar verletzen.
Wir scheuen die momentane Auseinandersetzung und produzieren damit umso mehr
Konflikte in der Zukunft.
Was steckt dahinter?
Diesen Verhaltensweisen liegt unser existenzielles Bedürfnis zugrunde, für diejenigen
wertvoll zu sein, die uns am Herzen liegen. Und nirgends wird dieses Bedürfnis so
spürbar wie im Verhältnis zu unseren Kindern, für die wir nur das Beste wollen. In der
Kombination aus diesem grundlegenden Bedürfnis und dem universellen Ehrgeiz für
unsere Kinder liegt zweifellos die Ursache, dass es uns so schwer fällt, ein gesundes
Gleichgewicht zwischen dem Ja und dem Nein zu finden.
Warum fordern vor allem kleine Kinder ihre Eltern immer wieder heraus?
Kleinkinder übertreten ständig die Grenzen ihrer Eltern. Ihr Verhalten dient einem
doppelten Zweck: die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und die Eltern kennen zu
lernen. Sie wollen herausbekommen, was den Eltern gefällt und was nicht, was sie
gutheißen und was sie ablehnen, worauf sie sich einlassen und was ihnen
widerstrebt. Im Laufe der nächsten drei, vier Jahre prägen sie sich langsam und
gründlich die Antworten auf diese Fragen ein: so lange, bis sie die Auffassung der
Eltern, was richtig und falsch, gut und richtig ist, verinnerlicht und damit deren
Moralvorstellungen übernommen haben.
Wie können Eltern diesen Prozess unterstützen?
Indem sie möglichst deutliche Antworten geben und Reaktionen zeigen und indem
sie geduldig warten, bis das Gelernte im Bewusstsein der Kinder verankert ist. Je mehr
wir mit unseren Kindern schimpfen oder sie kritisieren, desto länger dauert es. Wenn
ein zweijähriges Kind dem Papa zum dritten Mal die Brille von der Nase zerrt, könnte
er freundlich, aber dennoch klar und entschieden, sagen: „Nein, das will ich nicht!“
Wenn die vierjährige Tochter das Gespräch der Eltern bei Tisch unterbricht, könnte
die Mutter sagen: „Ich will zuerst weiter mit Papa sprechen, danach können wir
miteinander reden.“ Dies sind klare, persönliche Aussagen, die Kinder sehr viel eher
zur Zusammenarbeit anregen als die unpersönlichen pädagogischen Phrasen
vergangener Tage: „Mit Brillen spielt man nicht. Die kosten viel Geld.“ Oder: „Man
unterbricht andere Leute nicht.“ Oder: „Mama will nicht, dass du ihre Brille nimmst.“
Oder: „Mama will erst mit Papa reden.“ Wer von sich selbst in der dritten Person
spricht, hat nur wenig Überzeugungskraft. Kaum auszudenken, wenn Erwachsene so
miteinander reden würden!
Was hat es in diesem Zusammenhang mit dem so genannten Trotzalter auf sich?
Diese Phase wird fälschlicherweise als Trotzalter bezeichnet. Dabei ist sie ein wichtiger
Entwicklungsschritt im Leben eines jeden Kindes. Viele Eltern fühlen sich in die
Defensive gedrängt, weil sie weitaus öfter Nein sagen müssen, als ihnen lieb ist. Das
liegt an der wachsenden Selbständigkeit der Kinder zum einen und der notwendigen
Rückmeldung auf ihr Tun zum anderen. Etwa ab dem zweiten Lebensjahr werden
Kinder selbständiger und damit weniger abhängig von Mama und Papa. Eltern
sollten sich darüber freuen, weil sie so allmählich wieder mehr Zeit für sich haben. Die
Kinder können sich frei bewegen, kommunizieren immer besser und lassen ihrem
Entdeckerdrang freien Lauf. Alles muss untersucht, getestet und erklärt werden.
Außerdem bestehen sie darauf, viele Dinge selbst zu tun, zu denen sie noch nicht
vollkommen in der Lage sind.
In dieser Phase haben Kinder zwei wichtige Bedürfnisse:
Erstens brauchen sie ein Feedback auf ihre unablässige Erkundung und Erprobung
der Wirklichkeit, was die individuellen Grenzen und Werte ihrer Eltern mit einschließt.
Daher ist es auch notwendig, immer und immer wieder Nein zu denselben Dingen zu
sagen. Je persönlicher und selbstsicherer sich die Eltern ausdrücken, desto schneller
werden die kleinen Forscher ihre Schlussfolgerungen ziehen. Beispiel: „Nein, ich will dir
heute keine Süßigkeiten kaufen.“
Zum zweiten sollten Eltern den Willen ihres Kindes nach mehr Selbständigkeit und
Autonomie vorbehaltlos bejahen und unterstützen. Wenn Kinder Dinge selbst
machen wollen, zu denen sie eigentlich noch nicht in der Lage sind, könnten Mutter
oder Vater beispielsweise sagen: „Schön! Da bin ich aber gespannt, ob du das
schon hinkriegst. Sag Bescheid, wenn du Hilfe braucht.“
Was verhilft Eltern in dieser Phase zu mehr Gelassenheit?
Das Beste, was Eltern für sich und ihr zweijähriges Kind tun können, ist, seine
Entwicklung als Geschenk zu betrachten, das ihnen im Laufe der nächsten
anderthalb Jahre mehr Zeit und eine größere Freiheit bescheren wird. Führt man sich
dies vor Augen, dann fallen auch die vielen Neins nicht so schwer, die unumgänglich
sind. Diese Phase der kindlichen Entwicklung gleicht in gewisser Weise der Pubertät.
Sie ist die erste Möglichkeit für das Kind, sich einen eigenen Raum zu erobern und
eine aktivere, wechselseitige Beziehung zu seinen Eltern aufzubauen – eine
Beziehung, die auf einer ganz anderen Grundlage steht als in den ersten beiden
Jahren. Einem Säugling seine ganze Fürsorge zukommen zu lassen, löst ein tiefes
Gefühl der Zufriedenheit aus, weil es Eltern auf sehr konkrete Weise vermittelt, wie
wichtig und wertvoll sie sind. Von nun an kommt es aber ebenso sehr darauf an, dem
Kind zu vermitteln, wie wertvoll es für die Gemeinschaft ist. Das heißt jedoch auch,
dass die Eltern neue Wege finden müssen, sich ihres eigenen Werts zu versichern.
Was müsste sich im sprachlichen Dialog zwischen Eltern und Kind ändern?
Manche Eltern wählen eine Sprache, die unnatürlicher nicht sein könnte: „Du weißt
doch, dass Papa nicht will, dass du an seinem Computer herumspielst. Wenn du
später mal einen eigenen bekommst, dann kann Papa dir beibringen, wie man
damit umgeht.“ Der Vater in diesem Beispiel spricht mit seinem Kind so, wie er sich
vorstellt, dass Eltern mit ihren Kindern sprechen sollten. Mütter und Väter, die so
reden, sind jedoch nicht als authentische Menschen spürbar. Dies zieht eine Reihe
von Konflikten und Frustration auf beiden Seiten nach sich. Und das geschieht, weil
die Eltern in der Familie einen einstudierten, künstlichen Ton anschlagen - wie bei
einem Rollenspiel. Die Erwachsenen spielen Eltern, und die Kinder imitieren kindliches
Verhalten. Die Mitglieder der Familie sind nicht authentisch, sondern eifern einer
abstrakten Idee von Familie nach. Wenn wir also eine so genannte kinderfreundliche
Sprache benutzen, schwächen wir unsere eigenen Botschaften, weil sie keinen
richtigen Eindruck mehr bei den Kindern hinterlassen. Denn die Sprache hängt nicht
mehr mit Gefühlen zusammen.
Was würden Sie Eltern raten, bevor diese ein Nein aussprechen?
Vergewissern Sie sich Ihrer eigenen Wertvorstellungen, Grenzen und Bedürfnisse und
überdenken Sie die Konsequenzen, die Ihr Nein für das Leben Ihrer Kinder haben
kann. Befinden sich Ihre Kinder bereits im dritten Lebensjahr, sollten Sie deren
Gedanken, Erfahrungen, Ängste und Erwartungen in Ihre Überlegungen mit
einbeziehen. Ebenso wie Sie haben Kinder ein Recht darauf, ernst genommen und
gehört zu werden.
Wie sollten Eltern sich verhalten, wenn ihre Kinder auf ein Nein enttäuscht, traurig oder wütend reagieren?
Keinesfalls sollten Eltern die emotionalen Reaktionen, die aus kindlicher Sicht
notwendig sind, kritisieren, ironisieren oder ins Lächerliche ziehen. Bei Konflikten mit
den Eltern braut sich bei Kindern oft ein Frustrations-Cocktail zusammen, der aus
Trauer, enttäuschten Erwartungen und Zorn besteht. Dies ist eine ganz natürliche
Reaktion des Kindes, die erfolgen muss, damit der Lernprozess fortschreiten kann. Es
besteht für die Eltern kein Grund, sich diese Frustration allzu sehr zu Herzen zu nehmen
oder gar ein erzieherisches Versagen daraus abzuleiten. In die Frustration der Kinder
sollten sich Eltern prinzipiell nicht einmischen. Sie sollten weder gleich mit Trost bei der
Hand sein noch versuchen, die Frustration zu relativieren. Richtig ist eine
empathische, anerkennende Bemerkung, etwa: „Ich wusste gar nicht, dass du es dir
so gewünscht hast.“ Oder: „Ich verstehe, dass du sehr enttäuscht bist. Ich hoffe, du
kommst bald darüber hinweg.“
Dürfen Eltern, die Nein gesagt haben, sich umstimmen lassen? Oder sind sie dann zu nachgiebig und inkonsequent?
Generell lässt sich sagen, dass ein Nein immer verhandelbar sein sollte, sofern zwei
Voraussetzungen erfüllt sind: Erstens sollte der Erwachsene sein Nein nicht für so
fundamental wichtig halten, dass daran einfach nicht zu rütteln ist. Zweitens sollte es
hier um ein Gespräch oder einen Dialog gehen und nicht um Quengelei, Erpressung
oder grobe Manipulation. Das Austauschen unterschiedlicher Standpunkte gehört
nicht nur zur Strategie von Geschäftsleuten und Politikern. Es ist auch ein Mittel
praktizierter Gleichwürdigkeit. Wir lernen uns dabei selbst und einander besser
kennen und erhalten zudem Informationen, die wir nicht bekommen würden, wenn
wir nicht offen für gleichwürdige Gespräche wären. Ein Erwachsener, der nach
einem gleichwürdigen Gespräch an seinem Nein festhält oder es in ein Ja
umwandelt, genießt bei Kindern unbedingten Respekt.
Aber ist es denn nicht wichtig, konsequent zu sein?
Wenn man seinen Grundüberzeugungen treu bleibt und sie zum Maßstab seines
Handelns macht, ist das sehr begrüßenswert. Aber davon auszugehen, dass man
heute noch in allen Fragen dieselbe Ansicht vertritt wie letzte Woche, ist weder
realistisch noch klug. Denn man beraubt sich selbst der Möglichkeit, etwas
dazuzulernen. Und genau darum geht es im Zusammenleben mit unseren Kindern:
sich selbst und seine Kinder besser verstehen zu lernen sowie klüger und reifer zu
werden, was die eigenen Wertvorstellungen, Ansichten und Entscheidungen betrifft.
Gefährlich ist der Mangel an Konsequenz, den bequeme Eltern an den Tag legen,
weil sie wichtigen Konflikten aus dem Weg gehen oder sich kurzfristig beliebt
machen wollen. Das verunsichert die Kinder, macht sie labil und lehrt sie, dass
Erwachsene sich erpressen und manipulieren lassen.
Was hilft Eltern, konsequent zu bleiben?
Kinder weigern sich oft, das zu tun, was ihre Eltern sich wünschen oder von ihnen
verlangen. Sei es, die Zähne zu putzen, sich anzuziehen, aufzuräumen oder
Hausaufgaben zu machen. Begegnet man ihrem Nein mit Kritik,
Überredungsversuchen, Motivation, Druck, Drohungen oder Versprechungen, kommt
es oft zu festgefahrenen Situationen, in denen beide Seiten ihre Würde verlieren.
Begnügt man sich jedoch damit, seinen Wunsch zu wiederholen, um sich
anschließend zu entfernen (oft nur für wenige Minuten), gibt man dem Kind
Gelegenheit, seinen Unwillen zur Zusammenarbeit zu überdenken. Es erhält damit die
Möglichkeit, unter Wahrung der persönlichen Integrität Ja zu sagen, statt einfach zu
gehorchen oder sich bedrückt zu fügen. Das funktioniert jedoch nicht, wenn Eltern
diese Methode nur als Trick anwenden, um ihren Willen durchzusetzen. Ein solches
Vorgehen muss vom Respekt vor der Integrität des Kindes und vom Glauben an
seinen Kooperationswillen getragen werden. Wenn Kinder mit Fürsorge und Respekt
für ihre persönlichen Grenzen behandelt werden, dann hören sie tatsächlich auf das,
was ihre Eltern sagen, und halten sich in der Regel auch daran. Vielleicht nicht immer
und vielleicht auch nicht mit großer Begeisterung, doch im Großen und Ganzen tun
sie es.
Herr Juul, wir danken Ihnen für das Gespräch!
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