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Liebe allein genügt nicht

Interview mit Jesper Juul († 2019) • Birgit Kuhn, literature.de

literature.de: Herr Juul, warum genügt Liebe allein nicht, um eine gute Mutter oder ein guter Vater zu sein? Warum tun sich heute viele Eltern so schwer mit der Erziehung?

 

Juul: Erziehung ist heute nicht schwieriger als früher. Es war noch nie leicht für Eltern, Kinder zu erziehen. Natürlich gibt es deutliche Unterschiede zu den Verhältnissen, wie sie früher herrschten. Liebe ist wichtig in der Erziehung und ganz allgemein im Umgang miteinander in der Familie. Doch auch wenn man sein Kind liebt, kann es passieren, dass es dem Kind nicht gut geht und es sich nicht gut entwickeln kann.

 

literature.de: Wir leben heute in einer modernen, demokratischen Gesellschaft. Wie wirkt sich die Demokratisierung der Gesellschaft auf die Familien aus?

Juul: Die Demokratisierung der Gesellschaft ist von der Familie ausgegangen. Es waren die Frauen, die in den 1960er Jahren um mehr Einfluss und um Gleichberechtigung kämpften. Heute sind sehr viele Frauen berufstätig und politisch aktiv. In der Demokratie geht es um die Verteilung von Macht und Geld. Dabei ist Führerschaft, d.h. Autorität, gefragt; das gilt für die Politik, die Parteien und Firmen genauso wie für Familien. Autorität kann man sich auf zweierlei Art verschaffen – indem man Angst einflößt oder indem man sich Respekt verschafft. Wer Angst macht, scheitert über kurz oder lang. Man muss also versuchen, sich Respekt zu verschaffen.

 

literature.de: Viele Eltern klagen darüber, dass ihre Kinder keinen Respekt mehr haben. Wie können sich Eltern den nötigen Respekt verschaffen?

Juul: Kinder haben Bedürfnisse und sie äußern Wünsche. Das eine hat mit dem anderen oft nicht viel zu tun. Ihr eigentliches Bedürfnis ist eine liebevolle Führerschaft der Eltern. Wenn Eltern diese Führerschaft nicht ausüben, dann wünschen sich Kinder alles Mögliche. Sie werden zu kleinen Tyrannen, die mit nichts zufrieden sind. Die meisten Eltern reagieren, indem sie ihren Kindern möglichst viele Wünsche erfüllen. Doch damit fühlen sich viele Kinder abgespeist. Was sie wollen und brauchen, ist, dass sie ernst genommen werden.

literature.de: Warum reagieren viele Eltern nicht angemessen auf die Wünsche ihrer Kinder?

 

Juul: Man kann die Reaktion vieler Eltern gut nachvollziehen. Sie sind in autoritären Verhältnissen aufgewachsen. Als sie Eltern wurden, haben sie sich vorgenommen, ihren Kindern die Demütigungen, die damit verbunden sind, zu ersparen. Sie machen das Gegenteil: Sie verweigern ihren Kindern gegenüber die Führerschaft. Doch das ist auch ein Fehler. Kinder brauchen eine liebevolle Führerschaft. Wenn Eltern ihre Autorität nicht ausüben, entsteht ein Vakuum. Dann sieht es so aus, als hätten die Kinder die Macht übernommen

 

literature.de: Sie empfehlen Eltern, eine gleichwürdige Beziehung zu ihren Kindern aufzubauen und zu pflegen. Was meinen Sie damit?

Juul: Gleichwürdigkeit beginnt in der Partnerschaft. Ich gehöre zu der ersten Generation, die gleichwürdige Partnerschaften angestrebt hat. Bis sich das Prinzip der Gleichwürdigkeit allgemein durchsetzt, wird es, so schätze ich, noch mindestens 30 Jahre dauern. Gleichwürdigkeit heißt, dass jegliche Gewalt abgelehnt wird. Also kein Schlagen, keine Demütigungen. Dass man den anderen mit seinen Bedürfnissen ernst nimmt. Leider spielt Gewalt in sehr vielen Gesellschaften noch immer eine große Rolle – einer hat die Macht, die anderen müssen gehorchen. Wer nicht gehorcht, bekommt Gewalt, physisch oder psychisch, zu spüren; seine Bedürfnisse spielen keine Rolle. Insgesamt sehe ich aber hoffnungsvoll in die Zukunft. Dass Eltern sich Gedanken darüber machen und darüber sprechen, wie sie mit ihren Kindern eine gleichwürdige Beziehung eingehen können, die auf Respekt beruht, ist bemerkenswert. Es zeigt, dass sie sich bemühen.

 

literature.de: Welche Rolle haben die Eltern für Kinder, die in der Pubertät sind? Sind die Eltern dann eine Größe, an der sich Kinder orientieren, oder ist es die Peer-Group?

Juul: Es stimmt nicht, dass in der Pubertät die Peer group, d.h. die Freunde, wichtiger als die Eltern ist. Die Familie ist für Kinder in der Pubertät genauso wichtig wie für jüngere Kinder. Wie wichtig die Familie für Pubertierende ist, merkt man oft erst, wenn es keinen Kontakt zu den Eltern gibt.

Pubertierende leben auf zwei Ebenen: Es gibt die soziale Ebene, das ist das, was die Erwachsenen wahrnehmen. Pubertierende verbringen sehr viel mehr Zeit mit den Freunden als mit der Familie.

Musik, Kleidung, Mode, also alles, was mit Stil zu tun hat, spielt eine große Rolle. Die Gruppe ist in diesem Bereich wichtig – Pubertierende orientieren sich sehr an dem, was die Gruppe macht.

Dazu kommt eine zweite Ebene, hier geht es um Existentielles. Pubertierende denken sehr viel über sich und die großen Fragen des Lebens nach. Erwachsene nehmen kaum etwas davon wahr.

Deshalb klagen viele Pubertierende darüber, dass sich niemand wirklich für sie interessiert. Dass die Eltern sie nicht wirklich kennen. Die meisten Erwachsenen sehen nur das, was sich an der Oberfläche abspielt. Wenn Eltern diese „oberflächlichen“ Dinge kritisieren, ist es klar, dass sich Pubertierende auf die Seite ihrer Freunde stellen. Dann haben Eltern den Eindruck, dass die Freunde wichtiger sind als Vater und Mutter.

 

literature.de: Eltern älterer Kinder sollen ihren Kindern als Sparringspartner gegenübertreten. Sie sollen sie aber nicht kritisieren. Was meinen Sie damit?

Juul: Niemand mag Kritik, Kinder und Jugendliche genauso wenig wie Erwachsene. Wenn ich von Kritik rede, dann meine ich persönliche Kritik. Also wenn z.B. Vater und Mutter dem Jugendlichen vorwirft, er bzw. sie interessiere sich nicht für die Familie. Wenn Eltern ihren pubertierenden Kindern als Sparringspartner gegenübertreten, dann äußern sie keine Vorwürfe, sondern stellen eine Frage in den Raum. Etwa so: „Wir haben das Gefühl, dass wir zu wenig Kontakt zu dir haben. Wir möchten

 

gerne mit dir reden.“ Diese Art des Umgangs ist eine Herausforderung für pubertierende Kinder. Die meisten gehen auch gern auf solche Fragen ein.

 

literature.de: Was ist für Eltern das Wichtigste im Umgang mit ihren heranwachsenden Kindern?

 

Juul: Eltern haben Werte, sie haben Erfahrungen, Meinungen und Gefühle. Am wichtigsten ist, dass sie dazu stehen und sie mitteilen. Wenn das Kind etwas macht, womit die Eltern nicht einverstanden sind, sollen sie das sagen. Eltern müssen ihren heranwachsenden Kindern klar machen, dass sie zu ihnen stehen, auch wenn sie jetzt anfangen, ihr eigenes Leben zu leben. Wenn Eltern ihre Unsicherheit zugeben, dann wirken sie authentisch und überzeugend. Die Jugendlichen wissen nicht, wie sich ihr Leben entwickelt, die Eltern sind auch unsicher. Wenn beide ehrlich dazu stehen, kann sich ein Miteinander entwickeln, von dem beide Seiten profitieren.

Eine andere, nicht empfehlenswerte Methode sind Verbote. Doch was passiert dann? Pubertierende leben ein Doppelleben: Zu Hause sind sie angepasst, außer Haus tun sie das, was verboten ist. Die meisten Teenager in Skandinavien verstecken sich nicht mehr. Doch auch das führt zu schwierigen Situationen.

 

literature.de: Ein 13jähriges Mädchen erzählt seiner Mutter, dass sie mit ihrem Freund Sex haben möchte. Wie sollen Eltern auf eine solche Frage reagieren?

Juul: Am wichtigsten ist, dass Eltern ehrlich sind. Ihre Reaktion muss authentisch sein. Dann ist sie auch glaubwürdig und überzeugend. Die meisten Eltern sind sicher überrascht, wenn ihre Tochter mit einer solchen Frage an sie herantritt. Das gab es in früheren Generationen nicht, da führten Jugendliche ein Doppelleben. Wenn Eltern überrascht sind, dann sollen sie es auch sagen. Und sich Bedenkzeit erbitten. Nach einer Weile sollten sie noch mal mit der Tochter über dieses Thema sprechen. Etwa so: „Ich kann nicht verhindern, dass du Sex mit deinem Freund hast. Aber wenn du meine ehrliche Meinung dazu wissen willst, dann sage ich dir, warte damit lieber noch.“

Eltern, die auf eine solche Frage abwehrend reagieren und ihre Tochter kritisieren – „ah, ist das jetzt so unter euch Mädchen, immer früher fangen sie mit dem Sex an“ – , riskieren, dass sie sich von ihnen zurückzieht und aggressiv wird.

 

literature.de: Machen Eltern ihre Sache ihren Kindern gegenüber gut oder weniger gut?

 

Juul: Ich sage mal, dass rund 80 Prozent der Eltern ihre Sache gut, wenn nicht sehr gut machen. Sie sind aber konstruktiv unsicher. Diese Unsicherheit ist kein Fehler, sie ist sehr verständlich. Schließlich sind wir ja noch am Anfang eines Prozesses, der zu gleichwürdigen Beziehungen führen soll. Wer sich nicht unsicher fühlt, ist möglicherweise autoritär. Oder kommt aus einer Familie, in der Gleichwürdigkeit die Beziehung untereinander bestimmt. Beides ist möglich. Manche Familien praktizieren bereits gleichwürdige Beziehungen und kommen damit sehr gut klar.

literature.de: Herr Juul, wir danken Ihnen für das Gespräch. Das Interview führte Birgit Kuhn

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Photo by Daiga Ellaby on Unsplash

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